Liegen lernen
Entgegnung zu warten schien, fragte ich: »Wieso?« Darauf sagte er, das sei natürlich nichts Neues, er mache sich schon lange Sorgen um die deutsche Jugend und um das ganze Land. »Komm, nimm noch ’n Schluck!« sagte er.
»Also, Junge«, fing der Onkel an, und seinem Ton nach zu urteilen, wurde es jetzt ernst, »ich mache mir auch Sorgen um dich.«
»Um mich?«
»Es steht nicht gut um die deutsche Jugend.«
»Nicht?«
»Nein. Nicht gut. Um die deutsche Jugend.«
»Aha«, sagte ich und wartete.
»Helmut, mein Junge, zunächst einmal: Nimmst du Drogen?«
Ich verneinte ehrlich. Damit gab sich der Onkel jedoch nicht gleich zufrieden, sondern beteuerte, es ginge ihm nicht darum, mich den Behörden oder meinen Eltern auszuliefern, sondern einfach darum, solche Probleme früh genug zu erkennen, um mir helfen zu können, damit ich nicht auf die schiefe Bahn gerate. Ich sagte, mit Drogen hätte ich nichts am Hut.
»Gut«, sagte der Onkel, nachdem er mir lange tief in die Augen geschaut hatte. »Wenn du mal meinst, du brauchst etwas, dann halte dich hier dran!« Onkel Bertram hob die Bierflasche und trank. Dann sagte er: »Und jetzt zu etwas, das vielleicht noch viel wichtiger ist.«
»Was denn, Onkel Bertram?«
»Helmut, machst du mit bei diesen Demonstrationen?«
»Demonstrationen?«
»Helmut, du weißt, der Russe steht vor der Tür, der hockt in Thüringen, nimm noch ’n Schluck, Junge, der hockt in Sachsen, der Russe, also direkt vor unserer Nase, und da hat er uns an den Eiern, wenn wir nicht aufpassen, Helmut, mein Junge, und einige von deinen Altersgenossen meinen, den sollte man mal machen lassen, den Russen, also ich kann nur sagen, die sollen doch rübergehen, wenn sie meinen, daß es da besser ist, aber Helmut, mein Junge, nimm noch ’n Schluck, ich hoffe, du bist nicht so dumm und gehst denen auf den Leim. Also: Warst du schon einmal auf so einer Demonstration?«
»Nein.«
»Gut, mein Junge, das soll auch so bleiben, nimm noch ’n Schluck!« Und vor lauter Erleichterung entwich dem Onkel ein ganzes Bündel von Fürzen. Und dann ging es zum gemütlichen Teil über: Der Onkel wollte wissen, wie es mit »Mädels« aussah.
»Wie meinst du das, Onkel Bertram?«
»Naja, mein Junge, du hast es doch mit Mädchen, oder? Also, du willst mir doch keine Schwuchtel werden. So ein langhaariger Schwuler mit Handtäschchen und Ohrring und allem? Du hast es doch mit Mädels, oder?«
»Naja, jedenfalls nicht mit Jungs.«
»Gut, Junge, das hört sich alles sehr gut an. Liegt gerade was an?«
»Was meinst du damit, Onkel Bertram?«
»Hast du ’ne Schickse?« Erst viel später ist mir aufgefallen, daß ausgerechnet der rechtsradikale Onkel ausgerechnet ein jüdisches Wort in diesem Zusammenhang gebrauchte. Vielleicht war Onkel Bertram ja ein viel größerer Dialektiker, als wir alle dachten.
»Nicht direkt«, sagte ich. »Aber ich arbeite daran.«
»Gut. Aber laß dir nicht auf der Nase herumtanzen. Denk immer daran, daß du der Chef im Ring sein mußt. Laß dich nicht unterbuttern. Ich weiß, daß das jetzt in Mode gekommen ist, aber laß dir kein X für ein U vormachen. Und wenn du Fragen hast, dann komm zu mir, deine Eltern müssen davon nichts erfahren. Komm, Junge, nimm noch ’n Schluck.« Und dann stieß er noch mal mit mir an, verlagerte sein Gewicht auf die mir zugewandte Seite, ließ zur anderen Seite einen Furz heraus, stand auf, ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Korn heraus, stellte sie auf den Tisch, nahm aus dem Küchenschrank zwei Pinnchen, goß sie randvoll, stellte eines vor mich hin und hob das andere vor sein Gesicht. Ich prostete ihm zu. Ich stürzte den Korn genau wie der Onkel in einem Zug herunter. Dann mußte ich husten, und der Onkel lachte. Er sagte, ich solle so bleiben, wie ich bin, und ging zurück zu der zu seinen Ehren angetretenen Festgesellschaft, um sich wieder den verpfuschten Leben seiner mißratenen Verwandten zu widmen. Ich atmete auf. Ich war der drogenabstinente, heterosexuelle Nichtdemonstrierer, die große weiße Hoffnung der Familie, des ganzen Landes.
So völlig unerfahren, wie es aussah, war ich damals aber schon nicht mehr. Ich hatte mal auf einer Party mit einem Mädchen Händchen gehalten. Es war beim langen Schäfer, vielmehr bei seinen Eltern, in der Kellerbar. Die Wände waren holzgetäfelt, und auf dem Holz klebten Autogrammkarten von Schlagerstars: Freddy Breck, Peter Rubin, Mouth and McNeal, Bernd Clüver, Peggy March und anderen. Es
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