Lilians Verfuehrung
nicht gespürt hatte. In der letzten Nacht hatte sie vor Aufregung kaum ein Auge zugetan, und nach dem langen Tag forderte ihr erschöpfter Körper seinen Tribut.
Die Geräusche aus dem oberen Stock beruhigten sie. Irgendwo in einer Nische kicherte eine Frau, und auch draußen herrschte noch Trubel, sie hörte eine kleine Gruppe von Menschen vor der Tür lachen, wahrscheinlich Raucher. Bis auf Madame Petrowitsch hatte sie noch niemanden in der Schule mit einer Zigarette gesehen, auch das Restaurant schien rauchfreie Zone zu sein.
Plötzlich fühlte sie sich einsam. Ausgeschlossen. Wie damals in der Schule, wenn sie wegen ihrer dünnen Beine wieder einmal als letzte zum Ballspiel ausgewählt wurde und die Gruppenführer sich sogar darüber stritten, wer sie in seine Mannschaft aufnehmen musste. Eine Demütigung, an die sie sich nur zähneknirschend gewöhnte und die in besonderem Eifer für ihre Schulerfolge gipfelte. So war sie zwar auch später immer noch die Letzte, die im Sportunterricht gewählt wurde, aber dafür Klassenbeste. Sie hatte den ganzen Tag mit Marc verbracht, was nicht schlecht gewesen war, aber dennoch spürte sie jetzt deutlich, dass sie wieder nicht dazugehörte. Statt bei den anderen in der Bar oder im Restaurant zu sitzen und zu plaudern, war sie auf dem Weg in ihr Zimmer.
Auf dem Weg in ihre erste Nacht mit ... Marc. All ihre Körperhaare richteten sich auf bei dem Gedanken, und sie fuhr sich unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen. Würden sie heute ...? So richtig? Oder war auch er erschöpft? Das Prickeln zwischen ihren Beinen, angeregt von dem, was sie im Keller gesehen und nahezu gespürt hatte, war noch immer da. Warum nicht? Er war so attraktiv, und er wirkte nett, warmherzig, geduldig. Es gab nichts zu verlieren. Sie war neugierig auf ihn, sie wollte ihn berühren, wollte ihn in sich spüren. Ein Ziehen ging durch ihren Leib.
„Ich glaube, ich möchte lieber ins Bett “, sagte sie und und versuchte sich an einem hoffentlich zweideutigen Grinsen . Ob er verstehen würde, was sie im Sinn hatte?
Draußen war es inzwischen dunkel, doch der Flur war hell erleuchtet und wirkte ebenso weiß und freundlich wie am Tage.
Im Zimmer angekommen ließ sie sich aufs Bett fallen und streifte die hochhackigen Sandalen von den Füßen. Ihr ganzer Körper summte noch immer vor Anspannung, von der sie endlich erlöst werden wollte .
Sie beobachtete ihn, wie er aus den Klamotten schlüpfte. Sein Körper war wirklich umwerfend, gut trainiert, aber nicht zu muskulös. Die Haut schimmerte seidig, auch er hatte offenbar geschwitzt heute . Gut so.
„Ist es okay, wenn ich zuerst ins Bad gehe?“, fragte er höflich, als er nur noch mit den schwarzen Shorts bekleidet vor ihr stand. Himmel, sie hätte ihn am liebsten an sich gerissen und ihn umgehend aufs Bett gezerrt! Wenn sie nur nicht so verdammt schüchtern wäre. Jetzt blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass er den Anfang machte. Wie immer.
„Ja, natürlich, geh nur.“ Sie schloss die Augen und lauschte dem Plätschern der Dusche. Er summte ein Lied, nicht besonders schön, aber dafür ziemlich laut.
Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen, als sie es erkannte. Es war ihr Lieblingslied, What the water gave me . Auch sie sang es oft im Bad, so wie sie überhaupt bei jeder Gelegenheit vor sich hin summte. Heute hatte sie das vor lauter Aufregung ganz vergessen, oder es war ihr nicht aufgefallen.
Sie hatte Aaron das Album geschickt, per E-Mail, und er hatte ihr vor ihrer Abreise nach Portland einen Videoclip zu dem Song gebastelt, den sie ihm als ihren Lieblingssong genannt hatte. Fotos von schönen Frauen im Wasser, Nixen, die er liebevoll zusammengeschnitten und mit Effekten übereinandergelegt hatte. Seltsam, dass Marc nun ausgerechnet dieses Lied summte - es war ja nicht gerade bekannt ?
Ach, Aaron - hoffentlich hielt er bei ihrem Date, was sie sich von seinen E-Mails versprach. War es falsch von ihr, sich hier in der Schule mit Marc zu vergnügen, während Aaron in Seattle auf sie wartete? Sie sog die Wangen ein und lauschte weiter dem Plätschern der Dusche. W arum eigentlich? Sie hatte ja keine Beziehung mit Aaron, kannte ihn nicht einmal persönlich. Im Gegensatz zu ihm, der immer noch virtuell war, war Marc real. Sie konnte ihn anfassen, riechen, schmecken ... wer wusste schon, was aus Aaron und ihr würde? Ein Strohfeuer vielleicht, geschürt von Anonymität und Freizügigkeit der Gedanken.
Vielleicht hatte
Weitere Kostenlose Bücher