Linna singt
mir um. »Die letzte Fracht ist die hübscheste.«
Ich lache unter Tränen; ich kann nicht glauben, was er da sagt, aber irgendwie tut es gut, dass nicht alles von der alten Linna verschwunden ist. Vielleicht sagt er das auch nur, um mich aufzumuntern, aber es hilft mir, mein Weinen zu besiegen, bevor wir im Tal angekommen sind. Ich bin der Boss. Ich darf nicht heulend zu meinen Leuten zurückkehren.
Als der Pilot mich mit dem Auto zum Marktplatz bringt, sehe ich, dass das halbe Dorf sich versammelt hat, um uns zu empfangen. Vor dem Wirtshaus steht Tobi in einer Gruppe Männer, die aufgeregt palavert, einer von ihnen sieht zornig aus und hat Tobi fuchtelnd und mit blitzenden Augen ins Gebet genommen. Er selbst sagt gar nichts mehr, schüttelt nur abwechselnd den Kopf und nickt. Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass es diesen Onkel, von dem er redete, überhaupt gibt.
Jules ist damit beschäftigt, einer Journalistin Fragen zu beantworten, zusammen mit Simon, der peinlich genau darauf achtet, dass er ja nichts Falsches sagt, während Maggie und Falk die Autos vom Schnee befreien, der auch hier unten noch meterhoch liegt.
Luna steht hechelnd daneben und bricht in euphorisches Freudengeheul aus, als ich aus dem Auto des Piloten steige und zu ihr laufe. Ich bleibe ein paar Minuten bei Jules, um zu überprüfen, welche Version er gerade zum Besten gibt, doch er hält sich an die beschönigte. Es klingt abenteuerlich, was Simon und er erzählen, ja, das waren wir: Abenteurer. Ohne Strom, fließendes Wasser und Gas, eingeschneit und fernab der Zivilisation, sogar das Brennholz ging uns zwischenzeitlich aus. Doch das Spannendste für die Journalisten ist die Tatsache, dass Falk und ich beinahe mitten in eine Lawinensprengung gestolpert sind. Es kommt mir surreal vor, aber das war die gefährlichste Situation, in der wir uns befunden haben, und in die haben wir uns ganz freiwillig begeben.
Der Rest erscheint mir jetzt schon wie ein schlechter Traum, aus dem wir in letzter Sekunde schweißgebadet erwacht sind. Sichtbare Spuren hat er keine hinterlassen. Die Botschaften sind weggewischt, wir haben die Hütte so zurückgelassen, wie wir sie vorgefunden haben. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass in wenigen Tagen oder gar heute schon neue Gäste dort oben eintreffen, in unseren Betten schlafen und an unserem Tisch sitzen. Sich auf unserem Dachboden versammeln und dort meditieren. Ob sie spüren werden, was dort geschehen ist, wenn sie die Hütte betreten? Merkt man den Wänden an, was in ihnen geschehen ist?
Doch der Trubel um uns herum nimmt mir jede Möglichkeit, darüber nachzudenken. Ehe wir uns versehen, sitzen wir im Wirtshaus und werden mit heißer Suppe und Tee versorgt, während unzählige fremde Menschen auf uns einreden. Ich brauche ein Weilchen, um zu kapieren, dass die Pistenwache sich nach dem Sturm telefonisch bei uns gemeldet hatte, aber der Mann, der uns davon erzählt, sagt, es wäre ja alles in Ordnung gewesen. Tobi muss ihm das versichert haben, denn auf seinem Handy haben sie angerufen, doch wir lassen den Mann von der Bergwacht stillschweigend in seinem Glauben und versichern ihm, dass wir dachten, allein zurechtzukommen. Es ist nicht der richtige Ort und der richtige Moment, um abzurechnen. Niemand von uns hat Lust, sich mit Tobias’ wirrer Gedankenwelt auseinanderzusetzen und hier einen Eklat zu provozieren. Dennoch brauchen wir nicht miteinander zu sprechen, um zu wissen, dass wir ihn nicht mit zurück nach Speyer nehmen. Er fragt uns gar nicht erst, er weiß es selbst.
Aber als ich vom Klo komme, passt er mich ab und stellt sich in dem dämmrigen Wirtshausflur vor mich, um ein letztes Mal mit mir zu sprechen. Ich müsste ihn anfassen, um ihn zu vertreiben, und nichts will ich weniger als das.
»Ich hab’s nicht böse gemeint, Linna. Ehrlich. Es war nicht böse gemeint! Nach den Gesprächen mit Maggie dachte ich, dass dich sowieso niemand richtig mag und dass du froh bist, wenn ich …«
Nein. Ich muss mir das nicht anhören, es reicht. Ich schiebe ihn grob zur Seite und verlasse die Gaststube, ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen. Für einen Moment bin ich wütend auf die anderen, nicht auf ihn. Ich möchte nicht wissen, welche Schauergeschichten Maggie ihm aufgebunden hat. Doch dann muss ich wieder daran denken, dass ihr Leben in Trümmern liegt und sie eine höchst unerfreuliche Scheidung vor sich hat. Es wird keinen Spaß machen, ihrem Umfeld mitzuteilen, warum ihre Ehe
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