Faith (German Edition)
Wolfsaugen
Faith schwang die langen Beine aus dem Bett und schüttelte ihre roten Haare.
In der Nacht hatte es wieder geschneit. Sie mochte den sauberen Geruch von Schnee und liebte die Kälte und Klarheit dieser Jahreszeit.
Wie immer hatte sie bei geöffnetem Fenster geschlafen, jetzt hielt sie ihre Nase in den eiskalten Morgen. Es war erst sechs Uhr, aber sie wollte, wie jeden Tag vor Schulbeginn, noch eine Stunde durch den Wald laufen.
Der Wald begann am Ende des Geländes auf dem die alte Villa ihres Vaters stand. Niemand, der bei klarem Verstand war, hätte dieses Haus gekauft. Das Grundstück war völlig verwildert. Kleinwüchsige, verkrüppelte Birken gruppierten sich um einen versumpften Teich, dessen Wasser im Sommer einen leichten Modergeruch verbreitete. Jetzt war er zugefroren.
Der Rasen verdiente diesen Namen kaum, da er fast durchgehend aus Moos bestand.
Das Haus, ein ziemlich alter Kasten, dessen Außenmauern zunehmend Farbe verloren, befand sich in bedauernswertem Zustand. Glyzinien, die im Frühling mit Kaskaden von blauen Blüten den Zustand der alten Villa milde verbargen, hatten mit ihren kräftigen Ranken Dachrinnen und Außenrohre fest im Griff.
Die Fenster schlossen nicht mehr richtig, die Heizung lärmte mehr, als dass sie wärmte. Aus den Wasserrohren lief keuchend leicht rostiges Wasser.
Es gab Zimmer, die sie nie benutzten, die weder beheizt noch gereinigt wurden. Aber Faith und ihrem Vater gefiel es so. Das Haus verlangte nichts von seinen Bewohnern, sah aber aus, als ob es sie dennoch beschützte.
Es versprach Geborgenheit.
Faith lief durch die weite Eingangshalle und rannte hinaus in die Kälte des Morgens. Der gepflasterte Hof lud geradezu dazu ein, sich die Knöchel zu brechen. Er wies tiefe Löcher auf, da ein Teil der Pflastersteine fehlte. Faith flog über den unebenen Boden hinweg, als sei sie schwerelos. Sie lief schnell und verschwand Sekunden später zwischen den Bäumen, deren Zweige sich unter der Schneelast bogen.
Knirschender Schnee.
Der graue Wolf schnüffelte durch den Wald, auf der Suche nach etwas Essbarem. Er fror und hatte seit Tagen nichts gefressen. Als er Faiths leichte Schritte hörte, erstarrte er zu einem dunklen Schatten, duckte sich und fixierte sie aus halb geschlossenen bernsteinfarbenen Augen.
Glitzernde Wolfsaugen.
Faith fühlte seinen Blick, spürte seinen Hunger, fror mit ihm. Ihre Wangen glühten vor Kälte, ihre roten Locken waren weiß von den fallenden Flocken.
Sie erwiderte seinen Blick. In diesem Moment flitzte ein Kaninchen an dem bewegungslosen Tier vorbei und der Wolf setzte sich in Bewegung. Das Mädchen strich sich die Haare hinter die Ohren und lief weiter.
Eine Stunde später stand Faith unter der Dusche. Wie jeden Morgen hatte ihr Vater Robert das Frühstück zubereitet. Heißer Milchkaffee und Joghurt, mehr stand nicht auf dem fast weiß gescheuerten Küchentisch, als sie die Küche betrat.
Faith verbrühte sich wie jeden Morgen beinahe die Kehle mit dem glühheißen Kaffee und löffelte zum Ausgleich den eiskalten Joghurt hinterher. Sie umarmte ihren Vater liebevoll, erntete aber nur das übliche Grummeln. Zu mehr war er so zeitig am Morgen noch nicht in der Lage. Sie griff nach ihrem Rucksack und stürzte zum zweiten Mal an diesem Tag aus dem Haus. Diesmal, um den Schulbus noch zu erwischen.
Ein neuer Schüler
Faith klammerte sich an die Haltestange im schlingernden Bus. Den Lärm um sie herum nahm sie kaum war.
Der Blick aus den Bernsteinaugen ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie hatte keine Furcht gespürt. Vielmehr eine merkwürdige Vertrautheit mit dem Tier. Sie hatte den Wolf nie zuvor gesehen, und dennoch glaubte sie, ihn zu kennen.
Ein Traum?
Faith schreckte auf.
Der Schulbus hielt direkt vor einem gewaltigen schlossähnlichen Gebäude, das vor etwa fünfzig Jahren in eine Privatschule mit Internat umgewandelt worden war. Seine roten Mauern leuchteten in der blassen Wintersonne unter dem strahlend blauen Himmel. Auf den tiefen Fenstersimsen unter den hohen Spitzbogenfenstern lag Schnee. Die breite Freitreppe, die zum Eingangsportal hinaufführte, war sauber gefegt. Dafür hatte Herr Zorn, der Hausmeister, schon am frühen Morgen gesorgt. Die Schule besaß einen ausgezeichneten Ruf. Wer es sich leisten konnte, schickte sein Kind dorthin. Das angeschlossene Internat allerdings war sündhaft teuer. Die Schülerzahl war begrenzt, nur wenige, sehr reiche Familien konnten sich leisten, ihre Sprösslinge hier
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