Linna singt
Brust und nicht bis zur Hüfte, und die Lederbänder am Arm habe ich längst abgelegt, sie stören mich beim Kämpfen. Doch ansonsten könnte es eine Aufnahme von gestern oder vorgestern sein. Knackig sitzende Jeans, breiter Gürtel, Bikerjacke, enges Oberteil, abgewetzte Boots. Die lange Unterwäsche sieht glücklicherweise niemand und auch nicht das zweite Paar Socken in meinen Stiefeln. Es war ein lausig kalter Tag. Widerstrebend löse ich die Augen von meinem Gesicht und lasse sie hinüber zu Falk wandern. Falk … Gestatten, Falk Lovenstein.
»Was für ein Babyface«, murmele ich. War mir das damals nicht aufgefallen? Wie alt war er, als wir das Foto gemacht haben? Achtzehn, rechne ich schnell, jetzt ist er also dreiundzwanzig, Jules ist fünfundzwanzig, ich bin vierundzwanzig, wie Maggie und Simon. Falk war unser Küken, ohne dass er mir jemals wie eins vorkam.
Ich schaue genauer hin und plötzlich weiß ich es wieder. Dieses verfluchte Warum und Weshalb. Seine Augen, so kühl und beherrscht … und scheu. Oder arrogant? Das konnte ich niemals herausfinden. Wenn man auf ihn zuging, wich er zurück. Nicht ängstlich oder unsicher. Eher wie ein Wolf, dem man versehentlich im Wald begegnet und der einem eine faire Chance geben möchte zu fliehen.
Das Kindliche an ihm waren sein Mund, sein Bubengrinsen, seine jungenhafte Größe, ich hatte ihn um einige Zentimeter überragt, aber seine Augen kannten eine andere Sprache. Sein Körper erst recht. Er hatte eine unnachahmliche Art, sich zu bewegen. Dabei bewegte er sich nicht viel, pro Auftritt vielleicht fünf, sechs Schritte, die man als Tanzen bezeichnen konnte. Bei den Proben gar nicht, da saß er meistens. Aber ich hätte ihn allein an seiner Haltung aus Tausenden heraus erkannt.
Ich will ihn mir nicht anders vorstellen als auf diesem Plakat … nicht anders als in dieser einen Nacht. Obwohl ich meine Füße kaum mehr spüre vor Kälte und ein unangenehmes Frösteln in meinen Bauch kriecht, verharre ich mit geschlossenen Augen vor meinem Kofferraum. Ich muss sie schließen, wie immer, wenn ich an diese eine Nacht denke. Ich denke oft daran. Manchmal vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denke. Diese Nacht ist mein Lebenselixier. Sie bringt mich dazu, an den nächsten Morgen zu glauben.
Danach hatten wir noch drei gemeinsame Auftritte mit Falk, den letzten im Februar, vor fast genau fünf Jahren, jener kalte, neblige Abend, an dem ich Falk und Maggie reden hörte und es plötzlich in meinen Ohren rauschte. Ich weiß nicht mehr, was sie redeten, ich will mich auch nicht erinnern, ich weiß nur, dass es in meinem Kopf zu rauschen begann und die nackte Panik sich auf meinen Rücken hängte und meine Kehle zusammenquetschte, bis ich nicht mehr sprechen konnte … Ich musste es beenden, es ging nicht anders.
Fünf Jahre lang haben wir uns nicht gesehen. Maggie, Jules, Simon, Falk und ich. Obwohl ich anfangs noch in Speyer blieb, vielleicht sogar als Einzige, ich weiß es nicht. Ich ging abends nicht mehr raus, und wenn, dann in andere Kneipen als jene, in denen wir uns getroffen hatten. In den ersten ein, zwei Jahren nach der Trennung schickte Jules mir ab und zu noch eine SMS, eine seiner typischen Kurznachrichten ohne Inhalt. »Bin grad beim Burger King, Hamburger essen, Gruß, J.« Mehr konnte man von jemand wie Jules nicht erwarten. Jules war zu sehr Hollywood, um ausführliche Nachrichten zu schreiben. Aber ich brauchte Monate, um zu begreifen, dass das tatsächlich alles war. Dass wir uns nicht mehr sahen, ich ihn nicht mehr zu Unzeiten besuchte, wir nicht mehr zusammen im Zapfhahn 7 kickerten, bis wir alle Gegner abgezogen hatten, wir nicht mehr morgens um drei vollkommen unmögliche Pizzakreationen zusammenstellten. Ich fühlte mich, als sei mir ein Körperteil abgeschnitten worden, das ich nicht dringend brauchte; ich kam ohne es klar, aber der Phantomschmerz ging nie weg. Doch ich schaffte es auch nicht, Jules noch einmal anzurufen oder zu ihm zu gehen, und je mehr Zeit verstrich, desto unheimlicher wurde mir zumute, wenn ich an ihn dachte. Als habe Jules zu verantworten, was an diesem Februarabend geschehen war.
Mir blieb nur die Hoffnung, dass unsere Wege sich eines Tages wieder kreuzen würden, von allein, wenn alles lange vergessen und vergeben war, und ja, ich hoffte auch, dass Simon sich gegen seine Schwester durchsetzte und mir schrieb oder mich anrief, obwohl ich die Band aufgelöst hatte. Doch er tat es nicht. Im Zweifelsfall halten die
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