Lippenstift statt Treppenlift
Tode!«
»Dann kauf dir eine Zeitung und setz dich zwischenzeitlich auf die Bank!«
»Ich les doch keine Zeitung auf der Bank!«
»Warum denn nicht?«, frage ich.
»Weil ich nicht will!«
Tatsächlich sollte sie laut Arzt nicht nur mehr gehen, sondern wirklich öfter die Zeitung lesen.
»Zeitung lesen! Das sagt sich so leicht! An so einer Zeitung kann man eine ganze Woche lesen, so viel steht da drin!«, sagt Mama, als wäre das eine ungeheuerliche Frechheit von den Zeitungsmachern.
»Du musst ja nicht alles lesen. Lies einfach einen oder zwei Artikel, das reicht doch schon!«, wende ich ein.
»Und der Rest? Soll ich den vielleicht einfach wegwerfen?«
»Warum nicht? Die Zeitung, die du kaufst, kostet nur sechzig Cent. Du kannst es dir locker leisten, jeden Tag eine neue zu kaufen und nur zwei oder drei Artikel …« Doch da verstummte ich: Der Blick, der mich gerade traf, war geradezu lebensgefährlich.
Tatsächlich habe ich lange nicht verstanden, wo überhaupt das Problem lag. Erst kürzlich habe ich es erkannt: Es lag tatsächlich am Geld. Um Geld zu sparen, liest Mama nämlich neuerdings statt der Tageszeitung, die sie sich ungefähr 65 Jahre täglich leistete, die Werbeseiten der Supermärkte, die im Postkasten landen. Da stehen dann solche Sachen wie: Hackfleisch gemischt, 100 Gramm: 99 Cent. Brokkoli, Stückpreis: 89 Cent. Saftorangen aus Valencia: 3 Kilo, 2,99 Euro. »Das kann ich so gut wie auswendig«, sagt Mama stolz. »Ist das etwa nichts?«
Wenn ich nicht selbst mit ihr eine Runde drehen kann, frage ich Mama jetzt täglich am Telefon, ob sie schon draußen war, und ziemlich oft ist das tatsächlich der Fall gewesen.
Und genauso oft nicht. Deswegen drohe ich ihr nun immer ein wenig und sage: Wenn du nicht rausgehst, dann organisieren wir eine Pflegerin, die jeden Tag mit dir spazieren geht. Das klingt hundsgemein von mir, ich weiß, aber es ist nun mal so, dass Mama neue Pflegerinnen fürchtet wie den Teufel, und deshalb bekomme ich sie auf diese Weise ziemlich zuverlässig aus dem Haus. Man muss sich eben auch mal trauen, sich unbeliebt zu machen!
Für die Zukunft, wenn Mama wirklich nicht mehr bereit ist, allein rauszugehen, habe ich auch schon eine Idee: Es gibt in derselben Straße, in der Mama wohnt, eine wahnsinnig nette Frau, mit der sie sich angefreundet hat, als sie früher oft mit meiner Tochter Ida auf dem Spielplatz war. Tatjana heißt die Frau, sie ist in meinem Alter, ihre Kinder sind nun auch lange schon aus dem Spielplatzalter heraus. Tatjana selbst jobbt ein wenig in der Nachbarschaftshilfe und hat mir bereits ihre Hilfe für Mama angeboten. Am liebsten würde ich sie gleich buchen, denn ich weiß, dass Mama mit Tatjana viel mehr Spaß hätte als alleine im Park. Aber ich warte noch ein wenig ab – noch weiß ich nicht, wie ich die Sache einfädeln soll, ohne dass meine Mutter sich völlig entmündigt fühlt.
Ömi ist derzeit übrigens die Einsichtigere von beiden, aber das muss nichts heißen, weil sich die beiden in puncto Trotz abwechseln. Ömi liest derzeit täglich die Zeitung und hat sie sogar neuerdings abonniert, um geistig fit zu bleiben. Allerdings liest sie sowieso ganz gern. Sie liest eigentlich den ganzen Tag. Ömi isst sogar wieder einigermaßen normal und versucht angeblich, täglich einen Mittagsschlaf einzulegen. Natürlich nicht im Bett, so weit käme es noch, sondern wahrscheinlich auf einer mit rostigen Nägeln durchsetzten Streckbank oder irgendwas ähnlich Bequemem. Aber dazu kann ich nur sagen: Wie man sich bettet, so liegt man – Hauptsache, sie schläft überhaupt und ist nachmittags fit genug, um noch zu wissen, wer und wo sie überhaupt ist.
Wenn Ömi genug gegessen, getrunken und geschlafen hat, dann ist sie noch genau so, wie sie immer war: und zwar trotz aller Schrullen eigentlich sehr lieb. Besonders zu den Kindern.
Das Schönste bei Ömi ist immer, wie sie bei Familienfesten alles für die Kinder herrichtet: Es gibt zum Beispiel bestimmt nirgends im ganzen Land einen so schönen Osterfrühstückstisch wie bei Ömi. Der ganze Tisch ist dann geschmückt mit kleinen Osterhasen und Küken und Gockeln, und zu jeder Figur erzählt sie den gebannt zuhörenden Kindern eine kleine Geschichte: Den Hasen hat eure Großtante im Handarbeitsunterricht geschnitzt, und das kleine gelbe Küken stammt noch von dem Bauernhof, auf dem euer verstorbener Großvater aufgewachsen ist, es ist über hundert Jahre alt – und so weiter und so fort.
Natürlich
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