Lippenstift statt Treppenlift
Angst, das Geld könnte plötzlich irgendwie weg sein – einfach so verschwunden.
Von Papa bekam Mama all die Jahre ein bisschen Unterhalt. Als beide in Rente gingen, waren es aber nur noch hundert Euro. Darüber war Mama stinksauer, denn sie dachte, Papa schwimme im Geld (tatsächlich hatte er nur wenig mehr Rente als sie). Als Papa dann starb, war zunächst nicht klar, wie sich das nun auf Mamas Rentenansprüche auswirken würde.
»Da dachte ich: Ruf ich doch einfach meinen Scheidungsanwalt an und frage!«, sagte sie. Klingt logisch. Aber nur im allerersten Moment.
Die Kanzlei jedenfalls gab es noch, die Nummer stand im Telefonbuch, nur ihr Anwalt, der war nicht mehr da, und sein Kompagnon auch nicht, denn sie waren beide schon tot. »Stell dir vor: Dabei waren die beiden doch junge Männer!«, sagte Mama völlig bestürzt. Ja, damals, als Mama selbst auch noch jung war, waren sie das. Aber das ist lange her. Tja, manchmal kann Mama eben doch nicht mehr so richtig rechnen.
Es gibt anscheinend keine verbindliche Regel, ob geschiedene Frauen von Verstorbenen noch weiter etwas von deren Rente bekommen – das hängt vom Einzelfall ab. In Mamas Fall wurde die Zahlung der hundert Euro nach langwieriger Prüfung der Rentenanstalt eingestellt. Das konnte sie nicht verstehen.
»Aber in der Scheidungsvereinbarung steht, dass ich auch in der Rente weiter Anspruch auf Unterhalt habe.«
»Aber jetzt nicht mehr!«, sage ich.
»In den Papieren steht es aber: Ich habe nach der Scheidung Anspruch auf seine Rente …«
»Aber er hat keine Rente mehr! Tote beziehen keine Rente. Tote können keinen Unterhalt zahlen. Sieh es doch endlich ein!« Nein, das konnte sie unmöglich.
Sicherheitshalber spart Mama Geld. Weil sie außer Nahrungsmitteln nicht mehr viel konsumiert, spart sie eben beim Essen, und zwar nicht an der Menge, sondern am Preis. Sie kauft nur Billigprodukte: Billig-Marmelade, billiges Supermarkt-Hackfleisch, Billig-Margarine, abgepackte Billig-Salami. Ich habe schon lange nichts Appetitliches mehr in ihrem Kühlschrank gesehen. Am schlimmsten sind die Sandkuchen.
Seit einiger Zeit isst Mama gern Sandkuchen oder Marmorkuchen zum Frühstück. Es gibt abgepackte von Dr. Oetker, die sind nicht besonders lecker, aber sie schmecken ganz okay. Die kauft sie aber nicht, sondern sie nimmt die Spar-Variante: No-Name-Sandkuchen für ungefähr 79 Cent die Packung. Schmeckt irgendwie chemisch, keiner von uns mag davon essen, obwohl Mama uns das dauernd anbietet: »Ich habe einen wunderbaren Kuchen im Haus!«, sagt sie immer, wenn wir vorbeikommen. »Wollt ihr nicht ein schönes Stück davon?« Aber darauf fallen nur noch fremde Gäste herein, die dann alleine an dem trockenen Chemie-Sandkuchen herumwürgen dürfen – wir tun das schon lange nicht mehr!
»Gönn dir doch mal was Gutes!«, sage ich oft zu Mama, aber sie sieht die Dinge anders: Für sie ist etwas Billiges »was Gutes«. Sie ist fest überzeugt, dass billige Produkte die besseren sind. Vielleicht kommt diese Haltung daher, dass früher die einfachen Sachen oft die besseren waren, zum Beispiel schlichte Hausmannskost aus wenigen Zutaten ohne viel Schnickschnack. Doch das ist überhaupt nicht übertragbar, finde ich.
Dennoch: Wenn etwas ein bisschen mehr kostet, dann glaubt Mama, das läge nicht an der besseren Qualität, sondern daran, dass die Hersteller Betrüger sind. Oder zumindest, dass man dabei nur unnötig Geld für den Markennamen berappt. Sie ist wirklich überzeugt, billig ist besser. Sie ist beispielsweise bereit, durch die halbe Stadt zu fahren, um zehn Packungen Seidenstrumpfsöckchen eines Billigherstellers à 49 Cent in einem weit entfernten Drogeriemarkt zu kaufen. Durch den Preis der Straßenbahnfahrkarten kosten die Söckchen insgesamt genauso viel wie die in dem Laden nebenan. Doch sie findet die billigen Söckchen einfach besser. Wo sie die abertausend Söckchen versteckt, die sie immerzu kauft, habe ich noch nicht herausgefunden. Wenn ich meine Mutter sehe, trägt sie tagein, tagaus ein und dasselbe Paar, ein vielfach geflicktes, dessen Oberfläche schon ganz aufgeraut ist vom häufigen Tragen.
Apropos verstecken: Es wäre schön, wenn Einbrecher jetzt nicht mehr weiterlesen würden. Mama versteckt zu Hause nämlich auch Geld.
Als sie sich damit abgefunden hatte, dass sie vergesslich wird, weihte sie mich in ihre Verstecke ein, damit das ganze Geld später mal nicht versehentlich weggeworfen wird (was definitiv passiert wäre).
»Komm
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