Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
bundesrepublikanischen Literatur, fühlt sich in der literarischen Öffentlichkeit oft schmerzhaft herabgesetzt.
Bleiben solche Wertungsfragen notwendig unbeantwortet und wird sich zudem auch das Wissen über die Literatur der Bundesrepublik durch die Öffnung von Archiven erheblich erweitern, so besitzt die Unsicherheit auch Vorzüge: Die Auseinandersetzung mit Texten von Wolfgang Koeppen bis zu den «Fantastischen Vier» betrifft viele Leser in besonders lebendiger, eindringlicher Weise. Sie erzählen von der Zeit, in der wir leben, und von unserer Vorgeschichte, also auch davon, wie wir wurden, was wir sind.
1. Nachkriegszeit und Fünfzigerjahre
Von Wolfgang Koeppen bis zum «Konjunktur Cha-Cha»
Ein spannungsreiches Bild der frühen Bundesrepublik findet sich in
Wolfgang Koeppens
(1906–1996) Roman «Tauben im Gras» (1951). Geschildert wird ein einziger Tag in einer Großstadt, die von den Folgen des Krieges, der Angst vor dem neuen Ost-West-Konflikt, von Aufbruchshoffnungen, sinnlichen Vergnügungen, von der Suche nach Orientierung und Lebenssinn bestimmt ist. Wichtig ist die Form des Romans, denn sie enthält schon eine Weltdeutung: Der Erzähler bindet sich an die Wahrnehmung und Perspektive seiner Figuren. Da es sich um eine auffallend große Zahl handelt – es sind mehr als dreißig–, wird der Leser mit vielen und zudem sehr unterschiedlichen Blickwinkeln konfrontiert.
Denn die Figuren gehören verschiedenen Nationen, Generationen und sozialen Gruppen an. Es sind unter anderem der junge deutsche Schriftsteller Philipp und der ältere amerikanische Autor Edwin, der eine skeptisch und glaubenslos, der andere mit einer Botschaft und einer Mission versehen; der Filmschauspieler Alexander und seine Frau, das «Lustroß» Messalina; der amerikanische Offizier Washington Price, der ein Verhältnis mit einer Deutschen hat und mit ihr ein Lokal in Paris eröffnen möchte, an dem steht: « NIEMAND IST UNERWÜNSCHT »; der schwarze Soldat Odysseus Cotton, der von einer aufgebrachten Menge in München gehetzt wird; eine Frau Behrend, die dem Nationalsozialismus und ihrer früheren privilegierten Stellung nachtrauert. Aus dieser Figurenfülle geht ein polyperspektivisches Erzählen hervor.
Diese Form stellt eine Aussage dar: Die einzig angemessene, zutreffende und wahre Beschreibung der neuen Welt gibt es nicht. Die Überzeugungen und Lebensformen haben sich vervielfältigt,und damit entspricht der Roman jener offenen Gesellschaft, zu der sich die Bundesrepublik entwickelte. Während in vielen Literaturgeschichten die Fünfzigerjahre noch immer als Zeit der ‹Restauration› klassifiziert werden, hat die Geschichtswissenschaft längst ein anderes Bild entworfen. Danach existieren durchaus Kontinuitätsstränge, die die Bundesrepublik mit dem Nationalsozialismus und mit vorhergehenden historischen Phasen verbinden, aber stärker ist die Neuorientierung. Es entsteht eine Ordnung, die auf der Freiheit des Individuums beruht, in der es ein stabiles Rechtssystem gibt und sich eine soziale Marktwirtschaft entwickeln kann. Auch überkommene autoritäre Strukturen, starre Normen und fragwürdige Geschlechterverhältnisse werden von der Dynamik der neuen Gesellschaft erfasst. So stellt es auch Koeppen dar: In seiner Stadt, in München, gibt es die alten Faschisten, es wird noch der «Badenweiler Marsch», der Lieblingsmarsch des Führers, gespielt und gegenüber schwarzen Amerikanern tobt sich ein rassistisch motivierter Hass aus. Aber dieser restaurative Teil der Gesellschaft dominiert sie nicht; die Suche nach Lebenssinn geht viele Wege, ein neuer mentaler Konsens ist nicht zu entdecken.
Zwar wird primär personal gesprochen, doch äußert sich auch ein außenstehender Erzähler mit uneingeschränkter Perspektive. Besondere Bedeutung besitzen zwei Abschnitte, in denen dieser Erzähler ungebunden von Figuren redet, die Welt in die Totale rückt. Diese beiden Passagen stehen am Anfang und Ende des Romans und sind miteinander durch die Wiederholung von Formulierungen verbunden; damit ist ihre Bedeutung hervorgehoben:
Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel. Der Lärm der Motoren war Donner, war Hagel, war Sturm. Sturm, Hagel und Donner, täglich und nächtlich, Anflug und Abflug, Übungen des Todes, ein hohles Getöse, ein Beben, ein Erinnern in den Ruinen. Noch waren die Bombenschächte der Flugzeuge leer. Die Auguren lächelten. Niemand blickte zum Himmel auf.
Öl aus den Adern der Erde, Steinöl,
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