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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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eindrucksvoll genug gewesen wäre, unterstrich sie sie noch mit Hüten und Tüchern in dramatischen Farben, trug Hosen und knallroten Lippenstift. In einer schwachen Stunde hatte sie mir einmal anvertraut, dass sie ihr Gesicht für wenig hübsch hielt, ihren Mund für zu groß, ihre Nase für zu breit. Ich fand nicht das Geringste daran auszusetzen. Ich liebte, bewunderte und fürchtete meine Mutter, mit anderen Worten: Ich betete sie an. Was sämtliche Qualen mit einschloss, die damit einhergehen, dass man mit ganzer Kraft zurückgeliebt werden möchte und viel zu wenig Anzeichen dafür findet, dass das der Fall ist.
    Papa saß wie ein Häuflein Elend an seinem Platz, den Rücken noch gebeugter als sonst, und zog eine Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte. Was immer es war, was er heute erfahren hatte – es hatte ihm einen sichtlichen Schlag versetzt, und ich musste sofort wieder an das Foto über seinem Schreibtisch denken. Es zeigte einen zuversichtlich dreinblickenden deutschen Soldaten und erst vor Kurzem war mir klar geworden, dass es sich dabei um ein Bild meines Vaters handelte!
    Ich hatte ihn nie so erlebt; schon bald nach meiner Geburt waren auch die vielen Plagen und Prüfungen in sein Leben getreten, die ihn seitdem beständig zermürbten. Meine Mutter erschien mir umso stärker, je schmaler und stiller er wurde, und sie liebte ihn mit einer Hingabe, die mich verlegen und eifersüchtig machte. Vielleicht waren selbst die haarsträubenden Dinge, die Mamu sich bisweilen einfallen ließ, nichts anderes als der Versuch, etwas von dem Mann auf dem Foto wiederzuerwecken.
    Nun, der Versuch ging nach hinten los, so viel stand fest. Noch nie hatten meine Eltern so heftig gestritten wie in letzter Zeit. Erst vor einer Woche hatte Mamu den »Stürmer« gekauft und mit nach Hause gebracht, das abscheuliche Nazi-Hetzblatt, das in Glaskästen am Straßenrand hing und an dem ich immer ganz schnell vorbeiging. Abstoßende dunkle Gestalten zierten die Titelseiten, Juden angeblich, die niemandem glichen, den ich kannte, aber denen man die Wut ansah, mit der sie gezeichnet worden waren. Türenknallend war Papa aus dem Zimmer gerannt, Mamus zornigen Aufschrei hatte ich noch in den Ohren: »Ich zumindest will wissen, mit wem ich es zu tun habe!«
    »Ziska ist heute zusammen mit ihrer Freundin aus dem dritten Stock in den Baum gesprungen«, sagte Mamu. »Aus dem dritten Stock! Die Kinder hätten tot sein können! Und weißt du auch, warum sie das tun? Es ist ihr Überlebenstraining für den Fall, dass dieses tumbe Grüppchen Hitlerjungen um Richard Graditz sie wieder verprügelt. So weit ist es schon gekommen, Franz. Unser Kind springt aus dem dritten Stock. Die Liebichs, die Todorovskis, die Grüns, alle haben schon Ausreiseanträge laufen, nur wir nicht!«
    Meine Mutter! Da hatte ich den ganzen Nachmittag an nichts anderes gedacht als an die verschiedenen Arten und Weisen, in denen sie mir den Kopf waschen würde. Und nun drehte sie den Spieß einfach um und nutzte unsere Tat, um meinen Vater in die Enge zu treiben! Ich brauchte nur noch mitzuspielen.
    Leider warf ich dabei einen Blick auf Papas schuldbewusstes Gesicht und merkte, dass es mir nicht gelingen würde. »Ich bin doch überhaupt nicht …«, begann ich.
    Aber Mamu warf mir einen so strengen Blick zu, dass ich den Mund wieder zuklappte. Dass ich selbst gar nicht gesprungen war, wusste sie längst. Meine Mutter war die klügste Frau, die ich kannte, und das Verdrehen kleiner Tatsachen zu ihren Gunsten war ihre Spezialdisziplin. Hätte ich ihr einen Vorwurf daraus gemacht, hätte sie vermutlich geantwortet: »Und? Warum bist du nicht gesprungen? Wenn du gesprungen wärest, müsste ich jetzt nicht schwindeln!«
    »Sie kriegen uns nicht mehr«, sagte ich stattdessen aufmunternd zu Papa. »Wir haben Verstecke und Fluchtwege im ganzen Viertel. Es sind schon so viele, dass Bekka sie auf einer Karte einzeichnen muss, damit wir sie uns merken können.«
    Merkwürdigerweise gereichte diese gute Nachricht nicht dazu, die Kummerfalten von seiner Stirn zu vertreiben. Papa stützte den Kopf in beide Hände und starrte dumpf vor sich hin.
    »Na, was sagst du zu Shanghai, Ziska?«, fragte Mamu lächelnd.
    »Wie kommen wir denn da hin?«, erwiderte ich skeptisch.
    »Mit dem Schiff. Eine Reise von mehreren Wochen.«
    »Ist es so weit wie Amerika?«
    »Weiter noch, Ziska! Ein ganzes Stück weiter als Amerika.«
    »Und wann fahren wir?«
    »Sobald ich die Papiere

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