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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Zimmer – Esszimmer, Wohnzimmer, Arbeitszimmer – und nach links als Erstes in die Küche, die das Reich unserer »Perle« Pauline gewesen war, als sie noch für eine jüdische Familie hatte arbeiten dürfen. Das Bad, das Elternschlafzimmer und mein eigenes Zimmer lagen dahinter, meins ganz am Ende des Flurs.
    Ich zog die Schuhe aus, um von Teppich zu Teppich zu schleichen und jeglichen Laut auf den Holzdielen zu vermeiden. Ihre Stimmen kamen aus dem Esszimmer. Gut, denn so konnte ich vielleicht unbemerkt an ihnen vorbei in mein …
    »Wir sind erledigt! Erledigt, Margot, verstehst du? Das war’s! Es ist aus, finito!«
    Papas erregte Stimme hob sich, schlug einen Bogen und kippte beim letzten Wort um. Ich hatte den Eingangsbereich schon halb durchquert und war an der Küche vorbei, aber jetzt blieb ich so angewurzelt stehen, als wären tonnenschwere Gewichte in meine Knie gefahren.
    Die Bergmann war also tatsächlich zur Polizei gegangen! Die Gedanken rasten durch meinen Kopf und überschlugen sich. Wir verlieren die Wohnung! Meine Eltern werden abgeholt! Bekka darf nicht nach Amerika! Das war’s! Wir sind erledigt! Aus!
    »Hüte dich vor unpassendem Verhalten«, hatte mein Vater mir eingeschärft. »Sei höflich, auch wenn sie grob werden, gib keine Widerworte. Sprich nicht laut oder unüberlegt, aber drück dich auch nicht zu fein aus – sie könnten sonst meinen, du fühltest dich überlegen. Geh in sauberen Sachen aus dem Haus, damit niemand sagen kann, wir seien dreckig. Ein einziges jüdisches Kind, das einen schlechten Eindruck macht, kann uns alle in Verruf bringen! Das Beste ist«, hatte er beim Blick in mein erschrockenes, verantwortungsgeplagtes Gesicht hinzugefügt, »du fällst überhaupt nicht auf, Ziska.«
    Was genau passieren würde, wenn ich auffiel oder mich unpassend verhielt, hatte er offengelassen, weil wir, wie jeder wusste, uns ohnehin nicht auf irgendeine Strafe verlassen konnten. Die Deutschen durften ja mit uns machen, was sie wollten. Aber dass es so schlimm kommen würde, dass wir erledigt waren, durch meine Schuld, damit hatte ich nicht gerechnet.
    »Quatsch, erledigt«, sagte Mamu ungeduldig. »Deine Klienten haben dich doch sowieso nicht mehr bezahlt.«
    Mein Vater antwortete nicht. Mamus Stimme wurde eindringlich. »Lass uns den Dingen mal ins Auge sehen, Franz. Wir leben ohnehin nur noch von meinem geerbten Geld. Und so überraschend kommt dein Berufsverbot doch auch nicht. Wer von unseren Freunden darf denn überhaupt noch arbeiten? Der Schumann, klar. Aber dem steht ständig die SA vor dem Laden, sodass sich selbst die Genossen kaum noch reintrauen.«
    Wie an unsichtbaren Marionettenfäden geführt, trugen mich meine Füße einige Schritte auf die angelehnte Wohnzimmertür zu. Während ich mein Ohr an die Tür drückte, betete ich voller Inbrunst: Oh Jesus, lass uns nur erledigt sein, wenn das nichts mit mir zu tun hat!
    »Vielleicht hätten wir doch versuchen sollen, rauszukommen«, sagte Papa leise.
    Nun war es an Mamu, nicht zu antworten. Oje, dachte ich und stellte mir vor, wie sie die Lippen aufeinanderpresste. Seit ich denken konnte, lag sie Papa in den Ohren: nur weg von hier! Aber Papa hatte nichts davon wissen wollen, selbst dann nicht, als ein Land nach dem anderen anfing, die Grenzen für jüdische Flüchtlinge dichtzumachen. Österreich war dem Deutschen Reich im Frühjahr diesen Jahres sogar angeschlossen worden.
    »Da bliebe immer noch Shanghai«, sagte Papa jetzt.
    »Wie schön, dass du endlich zur Vernunft kommst«, erwiderte Mamu frostig. »Ziska, du bist meine Zeugin. Glaubst du, ich merke nicht, dass du hinter der Tür lauschst?«
    Verdattert schob ich mich ins Zimmer und sah mich meinen Eltern gegenüber. Sie saßen am Esstisch unter dem großen Ölbild von Kaiser Wilhelm und Mamu bedachte mich mit einem ihrer üblichen prüfenden Blicke durch die dicke schwarze Haarsträhne hindurch, die ihr rechtes Auge halb verdeckte.
    Den Blick kannte ich nur allzu gut und er löste nicht mehr als die gewohnte Mischung aus Schuldgefühl, Sorge und Bewunderung in mir aus. Meine Mutter galt allgemein als »schöne Frau«, wobei diese gängigen Worte ihr meiner Meinung nach kaum gerecht wurden. Sie war groß, dunkel, temperamentvoll, mit lauter Stimme und weit ausholenden Bewegungen. Ihren Riesenschritten vermochte ich als Kind auf der Straße kaum zu folgen – wahrscheinlich der Grund, warum ich jetzt so gut im Laufen war –, und als ob ihre Erscheinung nicht

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