Lohn des Todes
Rücken meines T-Shirts schweißnass.
Meine Hände zitterten, ich umklammerte das Lenkrad so fest, dass meine Knöchel weiß wurden.
Überrascht trat ich auf die Bremse. In der Einfahrt standen mehrere Wagen, darunter auch Martins Touran. Ich parkte meinen
Golf dahinter, nahm den Hund an die Leine und stieg aus. Ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln.
Das Haus lag am Hang, und die Mauer, die den Friedhof abfing, bildete die Rückwand. Aus dem rückwärtigen Fenster im ersten
Stock konnte man auf die Grabsteine schauen; wenn man vor der Wohnzimmerwand stand, befand man sich quasi Auge in Auge mit
den Toten, nur durch zwei Meter Sandstein getrennt. Martin faszinierte dieser Gedanke. Das Haus war L-förmig gebaut. Zwischen
den Schenkeln waren der Hof und die Terrasse, von der man einen atemberaubenden Blick auf den Rursee hatte. Die Eingangstür
lag auf der Außenseite des längeren Schenkels, aber wir benutzten meist die Terrassentür im Hof, um ins Haus zu gelangen.
Ich war um das Haus herumgegangen und stand an der Ecke zum Hof, als ich Martins dozierende Stimme hörte. Wem gehörten die
Wagen, und was taten sie hier? Hatte Martin nicht |10| gesagt, dass er mit einem Mordfall beschäftigt war? Weshalb war er entgegen seiner Aussage in die Eifel gefahren, und warum
hatte er mir das nicht gesagt?
»Woher weißt du, dass er erst gequält worden ist, Maria?«, fragte eine mir fremde, männliche Stimme.
»Die Quetschungen und Striemen sind unterblutet. Die Hämatome haben sich schon verfärbt, schillern grünlich. Zu dem Zeitpunkt,
als ihm diese Verletzungen zugeführt wurden, war er noch gut durchblutet.«
»Alles deutet darauf hin, dass er längere Zeit gefangen gehalten und misshandelt worden ist. Ich schätze mehrere Tage bis
zu einer Woche«, sagte Martin. »Sein Magen war leer und geschrumpft, er hatte einige Tage keine Nahrung zu sich genommen.
Außerdem war er dehydriert.« Wieder räusperte er sich. Papier raschelte, vermutlich schlug er eine Seite um. Ich lehnte mich
an die kühle Hauswand, immer noch nicht bereit, in den Hof zu gehen, und schloss die Augen.
»Er wurde anal und oral vergewaltigt. Sowohl im After wie auch in der Mundhöhle haben wir Spermaspuren gefunden. Die Gebissprothese
befand sich nicht bei der Leiche. Der After weist deutliche Fissuren auf, der Täter ist brutal und ohne Rücksicht vorgegangen.«
Jemand hustete.
»Am Hinterkopf der Leiche befindet sich eine Schlagwunde. Sie ist verkrustet und fast verheilt. Ich vermute, dass das Opfer
niedergeschlagen und so überwältigt wurde. Außerdem nehme ich an, dass es in einem Kellerraum gefangen gehalten wurde. Unter
den Nägeln befinden sich Schmutzspuren, die darauf hindeuten.«
»In einer Hautfalte des Opfers haben wir eine Mehlmotte gefunden, das ist ein weiteres Indiz für Martins Theorie. Mehlmotten
sind kälteempfindlich, und in den vergangenen Wochen war es zu kühl, als dass sie draußen hätte überleben können.«
Ich öffnete überrascht die Augen. Die Stimme gehörte Andreas, Martins bestem Freund, mit dem er sich eine Wohnung |11| in Köln teilte. Andreas war Biologe, forensischer Entomologe. Ein Insektenforscher. Hin und wieder wurde er bei schwierigen
Fällen als Experte von der Polizei hinzugezogen.
Wieso bearbeiteten sie den Fall hier? Wer waren die anderen, und um welchen Toten ging es? Ich würde keine Antwort erhalten,
wenn ich nicht nachfragte.
Ich hatte einige Zeit in der Rechtsmedizin gelernt, aber schnell festgestellt, dass der ständige Umgang mit Toten nichts für
mich war. Deshalb wechselte ich zur Psychiatrie und spezialisierte mich schließlich auf Kinder und Jugendliche. Während meiner
Zeit in der Rechtsmedizin lernte ich Martin kennen und lieben. Da ich mit der grundsätzlichen Arbeit vertraut war, besprach
er häufig Fälle mit mir. Nicht immer konnte ich das ertragen. Für ihn waren die Leichen Forschungsobjekte. Sie zeigten Spuren
auf, die auf die Umstände ihres Todes hinwiesen. Diese Rätsel zu lösen und damit den Täter zu überführen war Martins Passion.
Mich beschäftigten eher Fragen wie: War der Täter wirklich fähig, die Tat als solche zu erkennen, und weshalb hatte er sie
begangen? Deshalb fertigte ich seit meiner Zeit im Alexianer hin und wieder Schuldfähigkeitsgutachten für die Staatsanwaltschaft
an.
Charlies feuchte Nase bohrte sich in meine Hand und riss mich aus meinen Gedanken. Auch er hatte Martins Stimme erkannt und
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