Der gefaehrliche Verehrer
1. K APITEL
»Also, ihr Nachteulen, es geht auf Mitternacht zu, und ihr hört KHIP. Macht euch bereit für fünf Hits in Folge. Hier spricht Cilla O’Roarke, und, Darling, diesen Hit sende ich nur für dich.«
Ihre Stimme war wie ein guter Whisky, glatt und kraftvoll. Weich und gleichzeitig rau schien sie direkt wie für die Ätherwellen geschaffen zu sein. Jeder Mann in Denver, der sein Radio auf ihre Frequenz eingestellt hatte, musste glauben, dass sie nur zu ihm sprach.
Cilla zog den Regler am Mischpult auf und schickte den ersten der fünf versprochenen Hits zu ihren Hörern hinaus. Musik erfüllte die Sendekabine. Sie hätte die Kopfhörer abnehmen und sich drei Minuten und zweiundzwanzig Sekunden Stille gönnen können. Sie bevorzugte jedoch mitzuhören. Ihre Vorliebe für Musik war nur einer der Gründe für ihren Erfolg beim Radio.
Ihre Stimme war ein natürliches Attribut. Mit Sprechen hatte sie ihren ersten Job bekommen – bei einer kleinen, mit wenig Geld ausgestatteten Radiostation im ländlichen Georgia –, ohne Erfahrung, ohne Empfehlungsschreiben und mit einem brandneuen High-School-Diplom. Es war ihr vollkommen klar, dass sie diesen Posten ihrer Stimme wegen bekommen hatte. Wegen ihrer Stimme und wegen ihrer Bereitschaft, für so gut wie keine Bezahlung zu arbeiten, ständig Kaffee zu kochen und gleichzeitig als Empfangsdame des Senders zu fungieren. Zehn Jahre später bestand ihre Qualifikation ganz sicher nicht mehr nur aus ihrer Stimme, die allerdings noch immer oft genug die Dinge zu ihren Gunsten wendete.
Cilla hatte nie die Zeit gefunden, den Collegeabschluss in Kommunikation zu machen, den sie nach wie vor anstrebte. Aber sie konnte jetzt als Technikerin, Nachrichtensprecherin, Interviewerin und Programmdirektorin einspringen – und hatte es auch getan. Sie besaß ein enzyklopädisches Gedächtnis für Songs und Künstler und Respekt vor beiden. Das Radio war seit einem Jahrzehnt ihr Zuhause, und sie liebte es.
Cillas lässige, kokettierende Persönlichkeit in ihren Sendungen stand in einem krassen Gegensatz zu der tüchtigen, organisierten und ehrgeizigen Frau, die kaum mehr als sechs Stunden schlief und hauptsächlich im Gehen aß. Die öffentliche Cilla O’Roarke war eine sexy Radioprinzessin, die sich unter Berühmtheiten mischte und einen mit Glamour und Aufregung erfüllten Job hatte. Die private Frau verbrachte täglich durchschnittlich zehn Stunden im Sender oder mit Arbeit für den Sender, war wild entschlossen, ihre jüngere Schwester durch das College zu bringen, und hatte seit zwei Jahren samstagabends keine Verabredung mehr gehabt. Und wollte auch keine.
Sie legte die Kopfhörer beiseite und überprüfte noch einmal ihren täglichen Fahrplan für den nächsten Fünfzehn-Minuten-Block. Für den Zeitraum eines Top-Ten-Hits war es still in der Sendekabine. Es gab nur Cilla und die Lichter und Anzeigegeräte am Mischpult. So mochte sie es am liebsten.
Als sie vor sechs Monaten die Stelle bei KHIP in Denver annahm, hatte sie um die Sendezeit zwischen zehn Uhr abends und zwei Uhr nachts gerungen, die für gewöhnlich einem Anfänger-DJ vorbehalten war. Mit steigendem Erfolg und zehnjähriger Erfahrung im Rücken hätte sie gewiss einen der wichtigen Tagesblöcke haben können, zu denen die meisten Zuhörerzahlen erreicht wurden. Sie bevorzugte jedoch die Nacht, und in den letzten fünf Jahren hatte sie sich einen Namen für diese einsamen Stunden gemacht.
Sie war gern allein, und sie schickte gern ihre Stimme und Musik zu all denen hinaus, die nachts lebten.
Mit einem Blick auf die Uhr setzte Cilla wieder ihre Kopfhörer auf. Zwischen dem Ausblenden von Hit Nummer vier und der Einleitung zu Hit Nummer fünf gab sie mit sanfter Stimme die Senderkennung und die Frequenz durch. Nach einer kurzen Pause, in der sie eine Kassette mit vorab aufgezeichneten Nachrichten einlegte, wollte sie dann mit ihrem Lieblingsteil der Show beginnen, dem Hörerwunschtelefon.
Sie genoss es zu beobachten, wie die Lichter am Telefon aufleuchteten, genoss es, die Stimmen zu hören. Das entführte sie jede Nacht für fünfzig Minuten aus ihrer Sendekabine und bewies ihr, dass da draußen Menschen waren, echte Menschen mit einem echten Leben, die ihr zuhörten.
Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich auf ihrem Drehstuhl zurück. Das war jetzt ihr letzter ruhiger Moment für die nächste Stunde.
Sie wirkte nicht wie eine in sich ruhende Frau. Auch sah sie nicht wie eine schillernde
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