Lokale Erschuetterung
Dreiviertelstunde |24| lang. Sitzt und summt leise vor sich hin.
Ich denke dein, wenn durch den Hain der Nachtigallen Akkorde schallen! Wann denkst du mein? Ich denke dein im Dämmerschein der Abendhelle am Schattenquelle! Wo denkst du mein? Ich denke dein mit süßer Pein, mit bangem Sehnen und heißen Tränen.
Ihr Summen wird lauter und leiser, die Worte kommen über die Lippen und verrecken, noch bevor sie sich zur Melodie sortiert haben. So sitzt Veronika und spürt die Blicke nicht, die ihr die Kellnerin hin und wieder zuwirft, wenn sie vorbeikommt. Es hat schon immer geholfen, sich der alten Reime zu besinnen, der todtraurigen Worte, die schon Tausende vor ihr gesummt und gesungen haben. Veronika wird ruhig. Wo denkst du mein?, flüstert sie und fühlt eine kleine Übelkeit aufsteigen. Unmöglich, dass sich jemand ihrer alten Geschichte erinnert. Die kennt nur sie allein. Und wer sie noch kennt, hat sich an ihr Vergessen geklammert. Wer ich hätte sein können, sagt Veronika und dreht sich einmal um und um. Niemand, sagt sie. Dann geht sie Tapas besorgen und eine Flasche Rotwein.
Hanns hat sich Zigaretten gekauft. In der Küche steht der Rauch. Oder hängt. Das trifft es wohl eher. Hängt unter der Decke und kündet von neuen Zeiten. Denkt Hanns. Er zieht die fünfte Zigarette aus der Schachtel und zündet sie an. Ihm ist schon seit der dritten schlecht. Als Lokalredakteur muss man rauchen. Hanns ist sich sicher, dass es stimmt. Lokalredakteure rauchen ununterbrochen und haben immer etwas zu lange, leicht schmutzige Fingernägel. So stellt er sich seine Zukunft vor. In einer Kreisstadt mit schnurgeraden Straßen und einem Marktplatz, auf dem zwei Mal in der Woche das Leben tobt. Wenn er dann über den Markt geht, werden ihn alle kennen und grüßen. Und er bekommt Rabatt am Gemüsestand und beim fahrenden Bäcker. Er wird vor dem Imbissstand an einem Bistrotisch |25| stehen, sich von irgendwelchen Lokalgrößen zulabern lassen und dabei ununterbrochen rauchen. Er wird immer ein kleines Notizheft mit sich herumtragen und seinen Senf zu allem dazugeben. Wird sich mit diesem und mit jenem gemein machen und allen recht geben, wenn sie ihn zutexten. So in etwa, denkt Hanns, wird es sein.
Veronika steigt im Flur zuerst aus den Schuhen. Die hat sie sich nur für Akquisegespräche gekauft. Und für Präsentationen. Dunkelrote hochhackige Schuhe, die vorn spitz zulaufen und so viel größer wirken, als sie sind. Veronika trägt Größe achtunddreißig, aber in den dunkelroten hochhackigen Dingern sehen ihre Füße nach vierzig oder einundvierzig aus. Das macht irgendwie Eindruck. Auf sie und auf die anderen. Veronika verdoppelt ihre Schrittlänge fast, wenn sie die Hochhackigen trägt. Sie läuft dann ein bisschen wie Julia Roberts in Pretty Woman. Ihr Hintern bewegt sich anders, ihre Schultern mühen sich nicht mehr, nach vorn zu fallen und einen Kokon um die kleinen Brüste zu bauen. Wahrscheinlich ist es bei allen anderen Frauen umgekehrt, denkt Veronika. Die fangen auf flachen Sohlen an, sich zu strecken und große Schritte zu machen. Muss einen Grund haben, dass ich dafür hochhackige rote brauche.
Der Zigarettenrauch in der Wohnung riecht ungewohnt. Wen hat Hanns da angeschleppt, denkt Veronika und stellt die Tüte mit Tapas und Wein erst mal in die Kammer. Auf Besuch ist sie nicht eingestellt. Sie will mit Hanns Tapas essen, Wein trinken und dann vögeln. So vielleicht. In der Reihenfolge. Nicht, dass sie jetzt mehr Lust hat als am Vormittag. Aber es gibt nun keinen Grund mehr, es nicht zu tun. Sie hat den Job fast in der Tasche, und Hanns wird seinen auch bekommen. Da ist Vögeln das mindeste, was sie tun kann zur Belohnung.
Hanns sitzt allein in der Küche und raucht. Auf einem |26| kleinen Teller liegen sechs oder sieben Kippen, und unter der Küchendecke hängt der Rauch. Hallo, sagt Hanns und drückt die angerauchte Zigarette auf dem Teller aus. Du siehst aus, als hättest du den Job bekommen.
Hab ich. Fast. Wir können feiern.
Veronika hebt den Rock hoch, steckt beide Daumen in den Bund der Strumpfhose, zieht sie runter und streift sie sich über die Beine. Sie macht das Gleiche mit dem Slip, der zwei dunkelrote Striemen in den Leisten hinterlässt. Sie knöpft die Bluse auf, zieht sie aus und legt sie vorsichtig auf den Geschirrspüler. Danach den Rock und zum Schluss den BH. Hanns sieht ihr zu und rührt sich nicht. Was ist los, fragt Veronika und lehnt sich mit dem Hintern leicht gegen den
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