Loretta Chase
geworden.
Lächelnd
sah sie ihren Vater an. Sie wusste, wie sehr er sie liebte. Es war nicht seine
Absicht gewesen, sie in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Er konnte ja nicht
ahnen, was er da von ihr verlangte.
Wie sollte
sie heiraten, wenn schon in der Hochzeitsnacht die Gefahr bestand, dass ihre
geheime Vergangenheit herauskäme? Wie würde der Mann reagieren, dem sie
anheimgegeben wurde, wenn er herausfand, dass seine frisch Angetraute nicht
mehr unberührt war? Und wie würde sie reagieren? Könnte sie gut genug lügen, um
ihn glauben zu machen, dass er sich täuschte? Wollte sie ihre Ehe mit einer
Lüge beginnen? Aber wie konnte sie ihm ihr Geheimnis offenbaren? Wie all die
Täuschungen eingestehen, die sie begangen hatte und weiter begehen würde an
denen, die sie liebte?
Diese und
viele weitere Fragen hatte sie sich seit geraumer Zeit gestellt und sich alle
nur möglichen Szenarien ausgemalt.
Sie war zu
dem Schluss gekommen, dass es das Beste wäre, als alte Jungfer zu sterben.
Aber das
konnte sie Papa nicht sagen. Unverheiratet bleiben zu wollen war ein höchst
unnatürlicher Wunsch für eine Frau.
Da es auch
für einen Vater unnatürlich gewesen wäre, dies von seiner Tochter zu wünschen,
überraschte es sie wenig, dass er das Thema nun zur Sprache brachte. Andere
Väter hätten dies schon vor Jahren getan. Sie sollte dankbar für die Zeit der
Freiheit sein, die ihr vergönnt gewesen war. Dennoch fragte sie sich: Warum
jetzt? Und dachte sehr unglücklich und bei sich: Warum überhaupt?
»Eine Frau
sollte heiraten. Ich weiß, Papa«, sagte sie.
Aber ich
kann es nicht, dachte sie. Ich kann nicht heiraten. Nicht mit diesem Geheimnis,
das auf mir lastet, und das ich nicht offenbaren kann.
»Du bist zu
lange schon viel zu selbstlos gewesen«, fuhr ihr Vater fort, sich in
seiner Unschuld nicht bewusst, wie sehr seine Worte ihr Gewissen malträtierten.
»Ich weiß, dass du dein eigenes Glück hintangestellt hast, um deiner
Stiefmutter während ihrer Wochenbetten zur Hand zu gehen. Ich weiß, wie sehr du
sie liebst. Ich weiß, wie sehr du auch deine kleinen Brüder liebst. Aber nun,
meine Liebe, ist es an der Zeit, dass du an
dich denkst, dass du deinen eigenen Haushalt gründest und eigene Kinder
hast.«
Oh, das
schmerzte. Die Trauer ging so tief wie schon lange nicht mehr.
Eigene
Kinder.
Aber er
wusste ja nicht, was vor zehn Jahren geschehen war. Er ahnte nicht, was seine
Worte für sie bedeuteten und wie sehr sie schmerzten. Und er durfte es nie
erfahren.
»Wahrscheinlich
ist es meine Schuld«, meinte ihr Vater. »Ich habe es mir in meinem Eigennutz
zur Gewohnheit gemacht, dich wie den Sohn zu behandeln, den ich nie zu haben
glaubte – eine Gewohnheit, die auch jetzt, da du vier kleine Brüder hast,
schwer zu brechen ist.«
Sie war
noch keine fünfzehn gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Zu ihrem großen
Entsetzen hatte ihr Vater nur ein Jahr darauf wieder geheiratet. Ihre
Stiefmutter Lizzie war gerade
mal neun Jahre älter als sie und ihr eher wie eine große Schwester denn eine
Mutter ... Was Charlotte zu gegebener Zeit leider nicht begriffen hatte. Wie
dumm sie gewesen war.
»Du hast
mich zu sehr verwöhnt, das ist das Problem«, diagnostizierte ihr Vater.
»Seit jener schrecklichen Zeit, wo du so krank gewesen warst, hast du mir nicht
einmal mehr Anlass zu Kummer oder Sorge gegeben. Stattdessen hast du dich
selbstlos aufgegeben – für unser aller Wohl.«
Nach der
Geburt des Kindes, von dem er nichts wusste, war sie tatsächlich lange Zeit
sehr krank gewesen. Und nach dieser schrecklichen Zeit hatte sie sich
geschworen, dass sie niemals wieder den Menschen, die sie liebte, Angst, Kummer
oder Schande bereiten wollte. Der Schaden, den sie bereits angerichtet hatte,
war nie wiedergutzumachen und würde für ein ganzes Leben reichen.
»Vielleicht
dachte ich ja auch, dass keiner der jungen Herren, die um dich herumscharwenzelten,
deiner würdig wäre«, fuhr Papa fort und legte ihr freimütig seine Gedanken
dar, wie er es schon immer getan hatte. »Da dein Verhalten stets über jeden
Tadel erhaben ist, begegnetest du ihnen zwar freundlich – wenngleich nicht zu freundlich
–, doch gehe ich gewiss recht in der Annahme, dass nicht einer von ihnen deine
Gefühle zu wecken wusste?«
»Nicht
einer«, bestätigte sie. »Wahrscheinlich ist das mein Schicksal.«
»Ich denke,
man sollte dem Schicksal nicht zu sehr vertrauen«, erwiderte er. »Mir hat
es zugegebenermaßen gute Dienste geleistet.
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