Loretta Chase
Prolog
Yorkshire, England
24. Mai 1812
Dürfte ich ihn wohl sehen?«, fragte
das Mädchen. Und ein Mädchen war sie wahrlich, gerade siebzehn Jahre alt.
Schmerz und Erschöpfung standen ihr ins kreidebleiche Gesicht geschrieben, die blauen
Augen darin riesig. Sie schien viel zu jung, schon Mutter zu sein.
Es war eine
schwere Geburt gewesen, die Gefahr noch nicht gebannt.
Die beiden
Frauen, die sich um das Mädchen kümmerten – die eine, obgleich schlicht
gekleidet, ganz offensichtlich eine Dame, die andere ebenso offensichtlich eine
Dienerin –, wechselten besorgte Blicke.
Kaum ein
Jahr war es her, dass die Dame die Marchioness of Lithby und Stiefmutter des
jungen Mädchens geworden war, doch zeigte sie sich nicht minder mitfühlend und
zugewandt als eine Mutter oder Schwester. Sie beugte sich über den blonden
Schopf auf dem Kissen. »Liebes, es wäre besser, wenn du ihn nicht siehst«,
meinte sie leise. »Du solltest jetzt ruhen.«
»Er ist so
still«, sagte das Mädchen. »Warum ist er so still?«
Lady Lithby
strich ihr über die Stirn. »Der Kleine ist ... sehr schwach, Charlotte.«
»Er wird
sterben, nicht wahr? Oh, Lizzie, lass ihn mich sehen! Nur einen Augenblick,
bitte. Es tut mir leid, so viel Mühe zu machen ...«
»Du
brauchst dich nicht zu entschuldigen«, entgegnete Lady Lithby
scharf. »Gib niemals dir die Schuld an dem, was geschehen ist.«
»Da hören
Sie, was Ihre Ladyschaft sagt«, bemerkte die Dienerin. »Dieses
durchtriebene Mannsbild hat an allem Schuld – er und diese schändliche Kreatur,
die sich Gouvernante geschimpft hat. Sie hätte vor Wölfen im Schafspelz auf der
Hut sein sollen. War sie aber nicht, das faule Stück. Ihnen hat sie das
überlassen, Lady Charlotte – aber wie soll denn eine unschuldige junge Dame von
der Verworfenheit der Männer wissen?«
Der Wolf im
Schafspelz war mittlerweile tot. Getötet bei einem Duell – wegen einer Frau,
versteht sich. Denn Lady Charlotte Hayward war keineswegs die Erste oder gar
die Letzte, die dem Charme von Geordie Blaine erlegen war, wenngleich
vermutlich die jüngste und hochwohlgeborenste.
»Siehst
du?«, sagte ihre Stiefmutter. »Molly ist auf deiner Seite. Ich bin auf
deiner Seite.« Eine Träne rann ihr die Wange hinab und tropfte auf das
Kissen. »Denk daran, Liebes – du kannst jederzeit zu mir kommen.«
Hättest du
das nur im vergangenen Sommer getan ...
Lady Lithby
sprach sie nicht aus, doch die Worte hingen unheilvoll in der Stille des
Zimmers.
»Es tut mir
leid«, sagte das Mädchen. »Ich war so töricht. Es tut mir leid. Aber
bitte, Lizzie ... dürfte ich ihn sehen? Einen Augenblick nur. Bitte.«
Ihr Atem
kam stoßweise, und jedes Wort bereitete ihr Mühe. Tränen standen ihr in den
Augen, ihre Brust hob und senkte sich schwer. Die beiden Frauen fürchteten sie
zu verlieren, waren indes darauf bedacht, sich ihre Besorgnis nicht anmerken zu
lassen.
»Sie darf
sich nicht aufregen«, murmelte Lady Lithby an die Dienerin gewandt. »Holen
Sie ihr das Kind.«
Molly
verschwand im Nebenzimmer, wo die Amme sich des Kleinen angenommen hatte.
Alles war mit
großer Sorgfalt und Diskretion arrangiert worden: die Hebamme, die Kinderfrau,
die Kutsche, die den Jungen gleich nach der Geburt zu seinen neuen Eltern
bringen würde. Der Fauxpas seiner Mutter war bestens verborgen geblieben. Nach
ein paar Minuten kehrte die Dienerin mit dem Säugling zurück. Lächelnd erhob
Charlotte sich ein wenig aus den Kissen, als Molly ihn ihr in die Arme legte.
Er machte einen kläglichen Versuch, ihre Brust zu finden, gab jedoch mit einem
leisen Seufzer auf.
»Nicht
sterben, mein Kleiner«, sagte seine Mutter und strich über den hellen
Flaum auf seinem Kopf. Mit der Fingerspitze fuhr sie ihm leicht über Nase,
Lippen und Kinn. Als sie seine Hand berührte, schlossen seine winzigen Finger
sich um den ihren. »Du darfst nicht sterben«, flüsterte sie ihm zu. »Hör
auf deine Mama.« Dann sagte sie noch etwas, doch so leise, dass die
anderen es nicht hören konnten.
Fragend sah
sie zu ihrer Stiefmutter auf. »Man wird sich doch gut um ihn kümmern?«
»Er kommt
in eine gute Familie«, versicherte ihr Lady Lithby. »Sie haben sich lange
vergebens um ein Kind bemüht und werden ihn mit all ihrer Liebe
überschütten.« Wenn er überlebt.
Auch dies
blieb ungesagt.
Vielleicht
blieb zu vieles ungesagt, doch Charlotte war sich ihrer Schuld zu sehr bewusst
und der misslichen Lage, in die sie ihre Stiefmutter gebracht hatte – war
Weitere Kostenlose Bücher