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Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Lost Girl. Im Schatten der Anderen

Titel: Lost Girl. Im Schatten der Anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Ströle
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einmal mit Sean telefonieren hören und gemerkt, dass sie bei jedem Satz am Ende wie bei einer Frage mit der Stimme hochgeht. Ich habe es ein paarmal nachgemacht, um Sean aufzuziehen, aber er hat nicht reagiert.
    »Sie ist mit ihren Freundinnen unterwegs«, sagt Sean vage.
    Er hat das perfekte Pokergesicht. Es macht mich wahnsinnig, denn mir sieht man jeden Gedanken und jede Regung an. Aber ich habe gelernt, Seans Augen und die kleinen Auf und Abs seiner Stimme zu lesen.
    »Erik hat dir von dem Tattoo erzählt.«
    Sean nickt.
    Ich blicke zu ihm auf. »Danke fürs Kommen.«
    Einer seiner Mundwinkel hebt sich. »Gern geschehen.«
    Wir stehen kurz da, blicken aufs Wasser. Sean hat die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und seine kurzen, strubbeligen schwarzen Haare bewegen sich im Wind. Er ist groß und schlank, hat das Hemd bis über die Ellbogen aufgekrempelt und seine grünen Augen haben genau dieselbe Farbe wie die Murmeln, mit denen ich als Kind spielen musste. Ich betrachte die Haut seiner Unterarme, die vom Sportunterricht und vom Fußballspielen nach der Schule leicht gebräunt ist. Am linken Ellbogen hat er eine Narbe. Ich wüsste gern, woher. Ich wüsste auch gern, warum ihm ein Echo und ihr Tattoo wichtiger sind als der Geburtstag seiner Freundin.
    »Manchmal hasse ich diese Wörter«, murmele ich.
    Er fragt nicht, welche Wörter ich meine. Ich glaube, er weiß es. Sean weiß immer alles. Er sieht voraus, welchen Zug ich beim Schach machen werde, und kontert noch bevor ich ihn ausführen kann. Er weiß immer, wer in einem Krimi der Mörder ist. Er könnte das zum Beruf machen, aber er will Theaterstücke schreiben. Vielleicht wird er also ein Shakespeare und kein Sherlock Holmes. Er könnte alles werden. Alles, was er will.
    »Lass uns nach drinnen gehen«, sage ich. Ich sehe den erwachsenen Sean vor mir, wie Lucy ihn küsst, wenn er nach Hause kommt, und die Kinder auf ihn zurennen und ihn umarmen … Ich schiebe die Bilder beiseite.
    Sean sieht, wie ich mich abwende, und kneift die Augen zusammen. »Was ist los?«
    »Nichts«, sage ich betont munter.
    Er hakt nicht nach, sondern folgt mir zum Haus hinauf. Vielleicht um mich abzulenken, fängt er gleich mit dem »Unterricht« an und fragt mich über soziale Gruppen und Stereotypen und gesellschaftliche Konventionen aus. Was ist ein »Goth«? Wofür steht die Abkürzung »Emo« und was für einen Musikstil würde ich als »Emo« bezeichnen? Ich muss jeweils Beispiele nennen. Was für Wörter wollen durchschnittliche Eltern nicht von ihrem jugendlichen Kind hören? Und würden die Eltern in Amarras Indien und Seans England an denselben Wörtern Anstoß nehmen, wenn beide Kinder aus englischsprachigen Familien kommen, auf englischsprachige Schulen gehen und in Städten leben, in denen überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, Englisch gesprochen wird, und sie Zugang zu denselben Fernsehsendungen, Filmen, Nachrichten, Sport- und Musikveranstaltungen haben?
    Ich beantworte alles richtig.
    »Fantastisch!«, ruft Sean, als könnte er es nicht fassen. »Dafür bekommst du als Belohnung einen Keks!«
    Ich werfe ein Geschirrhandtuch nach ihm.
    Sean geht zu Mina Ma, um ihr mit dem Abendessen zu helfen. Ich würde auch helfen, muss aber noch Sturmhöhe fertig lesen und Erik einen Aufsatz darüber mailen, ob Nelly Dean eine zuverlässige Erzählerin ist. Ich liebe das Buch, eins der wenigen Dinge, die ich mit Amarra gemeinsam habe, deshalb hat diese Hausarbeit uns beiden viel mehr Spaß gemacht als die über Romeo und Julia . Während Sean und Mina Ma also Kartoffeln stampfen und Würstchen braten, sitze ich mit Buch und Notebook am Küchentisch.
    »Nelly«, lese ich meine Einleitung laut vor, »kann Cathy und Heathcliff nicht ausstehen und deshalb ist ihr Urteil alles andere als objektiv. Sie ist auch offen gesagt ein ziemliches Aas.«
    Mina Ma und Sean müssen lachen. Mina Ma schluckt ihr Lachen hastig hinunter und weist mich wegen meiner Ausdrucksweise zurecht.
    Ich bin mit dem Aufsatz zur Hälfte fertig, da geht Mina Ma aus der Küche, und Sean setzt sich mir gegenüber an den Tisch.
    »Ich habe eine Frage«, sage ich.
    »Was für eine Überraschung«, sagt er. »Du eine Frage? Das gab’s ja noch nie.«
    Ich grinse. »Geschenkt. Sie hatte sowieso nur mit dem Buch zu tun.«
    »Ich habe auch eine Frage«, sagt er. »Ich habe zufällig für morgen zwei Eintrittskarten für den Zoo. Willst du eine?«
    »Was soll ich damit? Gib sie lieber jemandem, der

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