Lost Girl. Im Schatten der Anderen
1. Die Andere
I ch weiß noch, wie ich mit Mina Ma in der Stadt war. Etwa zehn muss ich damals gewesen sein. Mina Ma wollte beim Zeitungshändler ein Lotterielos kaufen. Ich blieb draußen und sah mir das Schaufenster des benachbarten Spielzeugladens an. Im Laden saß ein Mann auf einem Hocker. In den Händen hielt er ein Messer und ein großes Stück Holz. Er bearbeitete das Holz mit dem Messer, schnitzte daran herum und formte es zu Armen, kleinen Beinen und einem Gesicht. Dann glättete er die rauen Kanten mit Sandpapier und befestigte auf dem Puppenkopf eine Perücke aus weichen, fast schwarzen Haaren. Zum Schluss nähte er noch ein kleines weißes, mit Knöpfen besetztes Kleid und zog es der Puppe an. Seine Hände schienen zu tanzen, so anmutig bewegten sie sich, so liebevoll.
Wenn ich mir vorstelle, wie ich gemacht wurde, dann so. Natürlich weiß ich nicht, wie es in Wirklichkeit war, und werde es wohl nie erfahren. Mina Ma hat mal was von Feuer gesagt. Erik meinte, wir werden zusammengenäht. Ich stelle mir also vor, wie mein Meister in einer Werkstatt an einem großen Eichentisch sitzt. Das dunkle Holz der Tischplatte schimmert im Licht. Ich stelle mir vor, dass er ein kleines Stück von der Haut meiner Anderen hat, etwas von ihr selbst. Er verwendet es, damit ich ein wenig von ihrer Seele habe. Den Rest setzt er aus Teilen eines anderen Menschen zusammen, vielleicht eines Menschen, der schon lange tot ist. Er räuchert die alten Knochen aus, um sie zu reinigen. Er brennt das alte Fleisch auf die richtige Größe. Mithilfe von Feuer gibt er mir die Form, die er für mich vorgesehen hat. Stück für Stück erweckt er mein Baby-Ich zum Leben, webt kleine Organe hinein, fügt einige feine Babyhaare hinzu und ein weißes Kleidchen. Dann klebt er mich an den Rändern zusammen. Auch bei ihm sieht es aus wie ein Tanz, aber sooft ich mir meine Erschaffung vorstelle, nie bewegen seine Hände sich liebevoll. Weil da keine Liebe ist.
Das gehört wahrscheinlich zu den Dingen, die ich schon immer wusste. Die Meister erschaffen uns, aber sie lieben uns nicht. Sie fügen uns nur zusammen. Und sie sorgen dafür, dass wir auch später nie vergessen, dass wir ihnen gehören.
Es ist früh. Ich rieche das nasse Gras draußen, die frische, saubere Morgenluft, die später als warme Brise über den See zieht. Es ist eigentlich zu früh, um aufzustehen, aber ich ziehe mich an und schleiche auf Zehenspitzen aus meinem Zimmer, vorbei an Mina Mas Zimmer zur Terrassentür im Erdgeschoss. Die Scheibe glänzt in der Sonne. Vor einigen Wochen war sie noch schmutzig und mit Ei bespritzt. Die Kinder aus der Stadt fanden es lustig. Ich weiß noch, wie ich die Schlieren des Eigelbs betrachtete und mir plötzlich einbildete, das Wort MONSTER darin zu lesen. So hatten sie mich genannt, als sie mich einige Tage vor den Eiern unten am See in die Enge getrieben hatten. Ich glaube, sie wollten wissen, ob das Gerücht über das Mädchen aus dem Haus am See stimmte. Die Situation geriet rasch außer Kontrolle und ich schlug einem von ihnen ins Gesicht. Er war doppelt so groß wie ich. Ich kam mit einem blauen Auge und einer blutigen Lippe davon und verspürte eine große Genugtuung, weil ich endlich einmal getan hatte, was ich wollte.
Meine Andere wäre weggelaufen.
Ich glaube nicht, dass sie sich wehrt, wenn sie etwas nicht will. Sie hat diese nachgiebige, vernünftige Art, sich in alles zu fügen. Erik und Mina Ma finden das viel angenehmer und lobenswerter als wildes Randalieren. Sie wünschen, ich wäre mehr wie sie. Mina Ma meint, dass ich oft nur aus Prinzip widerspreche. »Manchmal glaube ich«, sagt sie, »wenn deine Andere ein kleiner Wildfang wäre, der sich ständig prügelte, wärst du aus Trotz lammfromm.« Aber das stimmt nicht. Es ist ganz einfach so: Ich habe mit meiner Anderen nicht viel gemeinsam. Mit fünf habe ich ihr Lieblingsessen auf den Boden geworfen. Und während sie auf den Knien ihres Vaters saß und irgendwelche verstaubten Artefakte säuberte, habe ich heimlich aus nassem Papier und Kerzenwachs Vögel gebastelt. Mit sieben habe ich Mina Ma bekniet, mit mir im Kino einen Film anzusehen, obwohl ich wusste, dass meine Andere ihn nicht gesehen hatte. Doch das sind Kleinigkeiten. Riskant, aber nicht gefährlich. Ich kenne den Unterschied.
Ich berühre die Scheibe der Terrassentür. Zu meinem großen Glück hatte der Kampf keine ernsten Folgen. Meine Vormünder waren entsetzt und Ophelia hätte eigentlich die Meister
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