Lost Girl. Im Schatten der Anderen
willst du mit deinem Leben anfangen?«, fragt Sean mich unerwartet. Wir sitzen im Bus, holpern eine Straße entlang und ich sehe das Meer. Es ist blaugrau und glitzert in der blassen Sonne.
Ich habe die Antwort parat, sie ist in mein Gedächtnis eingebrannt. »Ich werde Archäologie studieren«, sage ich. »Der Vater meiner Anderen, Neil, ist Historiker, und Amarra interessiert sich für solche Dinge. Vielleicht werden wir der nächste Indiana Jones.«
»Nein«, sagt Sean, »ich meinte, was willst du tun?«
»Darüber soll ich nicht nachdenken«, entgegne ich ausdruckslos.
»Aber ich frage dich.«
Ich zucke die Schultern. »Keine Ahnung. Aber macht es das nicht irgendwie auch spannend? Ich würde vielleicht an die Hochschule gehen, wenn ich achtzehn bin, Kunst studieren. Ich glaube, das könnte mir gefallen.«
Es ist schön, von so etwas zu träumen. Ich blicke auf das Meer hinaus, zum Himmel und dann in die andere Richtung auf die vorbeiziehende Straße. Ohne dass ich es will, beobachte ich die lachenden Jugendlichen, die Mütter und Kinder und Familien vor den Restaurants und Kneipen und ich muss daran denken, wie anders ich bin.
Sean berührt vorsichtig meine Hand. Ich versuche ein Lächeln, was mit der Sonne in den Augen und der salzigen Luft in der Nase ganz leicht geht.
Dann sind wir da und der Zoo ist wunderschön. Voller leuchtend bunter Schilder und kleiner Häuser und Tiere aus den fernsten Ländern der Erde. Alles ist so schön, wie ich es mir vorgestellt habe. Sean war schon hier, aber er lässt mich vorausgehen und folgt mir überallhin, wo ein Wegweiser oder Tier meine Aufmerksamkeit erregt. An vielen Käfigen und Gehegen stehen große Tafeln mit Namen darauf: Ein Schimpanse heißt Molly, ein Python Eduardo. Die Nilpferde heißen Daisy, Ju-Ju und Tom. Über einige Namen müssen wir lachen. Sean kann nicht fassen, dass jemand ein Nilpferd ausgerechnet Tom nennt.
»So was von langweilig!«, ruft er empört.
Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal so glücklich war, aber es fällt mir nichts ein. Dabei ist mein Gedächtnis absolut zuverlässig. Vielleicht war ich einfach noch nie so glücklich.
Aber ich bleibe vorsichtig. Ich halte die Augen offen und blicke immer wieder über die Schulter. Einmal ertappe ich Sean dabei, wie er ein wenig die Stirn runzelt und die Menschen um uns herum mustert, als fürchtete er, jemand könnte uns beobachten. Obwohl ich jede Minute in vollen Zügen genieße, sind die Meister in meinem Unterbewusstsein ständig präsent. Ich kann nicht vergessen, dass ich anders bin als die fröhlich schwatzende Menge um uns. Ich vergewissere mich, dass meine Haare das Mal auf meinem Nacken verdecken.
»Hier«, sagt Sean und wir bleiben vor einem großen Gehege stehen. »Das wollte ich dir eigentlich zeigen.«
Die Elefanten.
»Mina hat mir erzählt, dass Amarra mit sieben zum ersten Mal in den Zoo gegangen ist«, sagt er. »Sie hat in ihrem Tagebuch von den Elefanten geschrieben, aber kein Bild beigefügt. Und du hast geheult und gesagt, du wolltest sie auch sehen.«
Ich spüre einen Kloß im Hals. »Unglaublich, dass du das weißt.«
»Ich weiß vieles. Die beiden reden am liebsten über dich. Also Mina und Erik. Du bedeutest ihnen alles.«
Ich wische mir über die Augen und betrachte die Elefanten. Es gibt drei Erwachsene und zwei Babys, die sich an ihre Mütter schmiegen. Sie sehen glücklich aus, als freuten sie sich, draußen in der Sonne zu stehen und Gras fressen zu können. Ein Elefant reißt mit dem Rüssel ein Büschel aus und lässt Gras und Erde auf seinen Rücken regnen. Sie sind so schön.
Ich blicke nach rechts und entdecke einen sechsten Elefanten. Er ist noch sehr jung, kleiner als die anderen, und steht in einem abgetrennten, viel kleineren Gehege. Auf einem Namensschild steht »Eva«.
»Warum ist das Elefantenjunge allein?«, frage ich empört. »Fühlt es sich nicht einsam?«
Sean zuckt die Schultern. »Merkwürdig ist das schon. Dort steht ein Wärter, ich frage ihn.«
Ich betrachte Eva. Sie ist von rastloser Tatkraft erfüllt, zertrampelt das Gras unter ihren Füßen und lässt mit Fußtritten kleine Erdklumpen durch die Luft fliegen. Hin und wieder sieht sie zu den anderen Elefanten hinüber, und ich stelle mir vor, dass sie ein sehnsüchtiges Gesicht macht. Doch dann trompetet sie trotzig und kehrt ihnen den Rücken zu. Am liebsten würde ich ihren Rüssel streicheln und die kurzen Borsten auf ihrem Rücken.
Sean kehrt zurück.
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