Lucy's Song
von dem Lied geträumt.«
Die Tür hinter uns wurde geöffnet. Eine Krankenschwester kam mit einem Glas Saft für Mama und einer Tablette.
»Schön, dass Sie wach sind«, sagte sie.
»Das nützt nicht viel«, sagte Mama mit einem Blick auf die Tablette, »mir ist immer noch genauso übel.«
Trotzdem schluckte sie die Tablette mit ein wenig Saft.
»Möchtest du auch ein Glas Saft?«, fragte die Krankenschwester mich.
»Nein danke.«
»Vielleicht ein Eis?«
»Oh ja.«
Sie lächelte und ging, um mir ein Eis zu holen. Kurz darauf kam sie mit einem kleinen Eis am Stiel mit Schokoladenüberzug wieder herein.
»Es ist warm draußen«, sagte sie.
Ich aß langsam mein Eis, während Mama wieder die Augen schloss.
»Ich habe euch viel vorgesungen«, sagte sie. »Kannst du dich noch dran erinnern? Abends. Meistens, damit Lucy ruhiger wurde.«
Ich nickte.
»Du hast auch ein Lied über Blumen gesungen«, sagte ich.
›Where have all the flowers gone‹, ja. Das mochtet ihr gern. Und dann habe ich viele Abba-Songs gesungen. Solche, wie wir sie im Radio gehört haben.«
»Du hast auch immer gesungen, wenn wir Auto gefahren sind. Lieder mit vielen Strophen.«
»Damit es keinen Krach auf der Rückbank gab«, sagte Mama.»Ich habe immer Musik eingeschaltet oder aber selbst gesungen. Das hat jedes Mal funktioniert. Und abends, wenn ihr ins Bett gegangen seid, habe ich Gute-Nacht-Lieder gesungen. Aber die haben euch nicht so gut gefallen. Am liebsten mochtet ihr die Lieder, die ich auch mochte.«
»Vielleicht hast du ja am besten gesungen, wenn du das gesungen hast, was du auch am liebsten mochtest?«
»Das kann sein. Und vielleicht mochte ich die Lieder am liebsten, die ich am besten gesungen habe.«
»Ich singe nie«, sagte ich.
»Das solltest du aber«, sagte Mama, »du hast eine schöne Gesangsstimme.«
Ich versuchte den Song aus dem Radio zu singen, kannte aber nur die ersten Worte.
»Vielleicht finde ich den Text ja in einem der Liederbücher zu Hause«, sagte ich.
»Ich glaube nicht, dass wir den haben«, meinte Mama. »Aber du kannst im Internet suchen. Da findest du ihn bestimmt.«
Ich hörte an ihrem Atem, dass sie kurz davor war, wieder einzuschlafen.
»Ja«, antwortete ich. Obwohl ich wusste, dass sie es nicht mehr hörte.
Ich blieb noch eine Weile sitzen und betrachtete sie. Meine Mutter da im Bett. Dann dachte ich an das Bild, das zu Hause an der Wand hängt. Mit Heftzwecken an der Pinnwand befestigt. Mama und ich, Onkel und Tante. Wir machten Ferien in Italien. Lucy war woanders. Wir mieteten ein Auto und fuhren in ein kleines Dorf. Der Onkel wollte Wein bei einem Winzer kaufen, von dem er gehört hatte. Wir verfuhren uns und kamen durchmehrere Dörfer, bevor wir das richtige fanden. Es war mitten am Tag und der Weinladen war geschlossen. Wir gingen in ein Café und aßen Eis, während wir darauf warteten, dass wieder geöffnet würde. Mama lachte die ganze Zeit. Tante machte ein Bild von ihr. An dieses Bild musste ich jetzt denken. Mama, gesund und lachend. Jetzt war sie so verändert. Irgendwie nicht mehr die gleiche Mama. Auch wenn ich wusste, dass sie im Grunde noch die gleiche war, war sie es doch nicht. Alles war anders. Ihr Aussehen, ihre Stimme. Der Geruch. Die Art, wie sie Dinge betrachtete. Sicher auch die Art, wie sie dachte.
Das Foto war vom letzten Sommer.
Ich überlegte, ob ich nach Hause gehen sollte. Aber was sollte ich zu Hause? Lucy war da. Und unsere Katze. Zusammen mit irgendeiner Frau, die ich nicht kannte. Eine, die sich um Lucy kümmern sollte. Vor allem um Lucy, aber auch um mich. Um mich musste sich niemand kümmern. Ich wusste nicht, welche der vielen Frauen, die sich um uns kümmerten, heute bei uns sein würde. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich einen Unterschied zwischen ihnen erkennen würde. Sie redeten alle gleich und taten alle die gleichen Dinge. Ich konnte mich auch nicht mehr daran erinnern, wie sie eigentlich hießen. Wer wer war. Ich wollte lieber warten, bis meine Tante kam. Es wäre schön, wenn sie die ganze Zeit da wäre. Das ganze Wochenende. Denn die Wochenenden waren am schlimmsten. Morgen sollte Lucy wieder in die Schule. Und anschließend ins Zentrum. Solange sie dort war, kam keiner zu uns nach Hause. Keine fremde Person, die an meine Tür klopfte, keine Fremde, die sich zu mir ins Wohnzimmer setzte. Niemand, der freundlich mit mir reden wollte.
Ich ging auf den Flur hinaus, um zu sehen, ob auf dem Teewagen noch Kuchen stand. Aber es war nur
Weitere Kostenlose Bücher