Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden (German Edition)
nennen.
Diesem Spiel mit der vergessenen zweiten Seite der Medaille begegnen wir ständig. Freute sich die Presse 2008 über eine Rentenerhöhung von 1,1 Prozent, so hatte sie übersehen, dass die Preise um 2,6 Prozent gestiegen waren. Im Wahljahr 2009 hatte die Regierung zwar das Glück, dass ihr Wahlgeschenk, eine Rentenerhöhung von 2,4 Prozent, nicht von den Preisen aufgefressen wurde. Aber sie »vergaß« darüber gerne
die ersten drei Jahre Ihres Wirkens: Die Renten stiegen um insgesamt 1,6 Prozent, die Preise aber um 7 Prozent; die Rentner verloren also real über 5 Prozent Kaufkraft! Ähnlich geht es Arbeitern und Angestellten mit Lohnerhöhungen und Studierenden beim BAföG: Preissteigerungen und Verluste der Vorjahre werden in der Darstellung einfach unterschlagen.
Bei manchen Themen ist die Lücke nicht so schnell erkennbar, und die ums Yin gekürzte Sicht der Dinge erscheint den meisten Leuten auf den ersten Blick einleuchtend und vollständig.
Etwa im Gesundheitswesen. Dort bezweifelt kaum jemand, dass eine Kostenexplosion stattfinde und das Hauptproblem der Gesundheitsfinanzierung darstelle. Entsprechende Grafiken und Zahlen haben wir schon oft gesehen, und die mahnenden Worte der Politikerinnen und Professoren klingen uns in den Ohren. Seit meiner Zeit als Statistiker bei der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung verfolge ich die Fakten in diesem Bereich sehr genau, sodass mir bald auffiel, dass die Medaille noch eine andere Seite hat. Neben den Ausgaben, auch Kosten genannt, stehen die Einnahmen. Diese eigentlich banale Feststellung hat überraschende Konsequenzen. Während nämlich die Gesundheitsausgaben für die gesetzlich Versicherten ähnlich wie die gesamte Wirtschaft wuchsen, blieben die Einnahmen der Krankenversicherungen hinter diesem Wachstum deutlich zurück. Genaueres dazu erfahren Sie im Kapitel »Die konstruierte Explosion«.
Auch wenn die folgende Grafik andere Tücken hat, die wir auf Seite 291 aufgreifen werden, zeigt sie, wo das wirkliche Problem ist: Das Aufkommen an Krankenkassenbeiträgen ist notorisch im Sinkflug, weil die Löhne stagnieren und es immer weniger gut bezahlte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
gibt. Wie Sie sehen, wird ständig an der falschen Seite herumgedoktert, und das eigentliche Problem wird nicht gelöst – obwohl es dazu gute Ideen gibt, wie die Bürgerversicherung. Aber so ist Politik.
Datenquelle: Statistisches Bundesamt; Bundesministerium für Gesundheit; ver.di
Die Grafik zu den Gesundheitskosten der gesetzlich Versicherten zeigt ausnahmsweise Yin und Yang: Einnahmen, Ausgaben und parallel die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Mafs für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. 1
» Deren Politik«, sagt mein Freund Jens, während er sich eifrig Notizen macht, und vage nach Südosten (Frankfurt?) und Nordosten (Berlin?) zeigt. Dabei lässt er offen, ob die Bankmanager oder gewisse Politiker gemeint sind.
Um ihn abzulenken, frage ich ihn: »Woran denkst du beim Thema technischer Fortschritt im Gesundheitswesen?«
»Der Kostentreiber, klar.« Seine Antwort kommt spontan und reflexhaft.
Ja, da ist sie wieder, die allgegenwärtige Angst vor der Unbezahlbarkeit, wenn es um Gesundheit geht. Dass technischer Fortschritt nicht nur teure Apparate bedeutet, sondern auch
dem Menschen dient und die Behandlungen oft sogar preiswerter machen kann, dieser Yin-Aspekt, ja, wo ist er hin? Eine Krampfaderoperation zum Beispiel bedeutete noch vor zwanzig Jahren: zwei Wochen Krankenbett, Schwitzen im Stützstrumpf und Dutzende von Anti-Thrombose-Spritzen. 2003 wurde die OP bei mir, dank fortgeschrittener Technik, ambulant vorgenommen – eine Sache von vier Stunden. Das nenne ich technischen Fortschritt mit eingebauter Kostendämpfung. Dazu noch eine beeindruckende Zahl: 1960 lag die durchschnittliche Liegedauer in westdeutschen Krankenhäusern bei 28,7 Tagen, 2004 nur noch bei 8,7 Tagen. 2
Bei anderen Themen ist man mit Kosten nicht so zimperlich. Im Streit um die Waldschlösschenbrücke , die neue geplante Straßenbrücke über die Elbe bei Dresden, zählen die Befürworter meist nur die Fahrminuten, die die Brücke zwischen Johannstadt und Albertstadt einsparen soll, und die Staukilometer, die dann, so hoffen sie, verschwinden. Über Yin-Aspekte wie die Landschaftszerstörung und den Verlust des Weltkulturerbe-Titels wurde viel diskutiert; dafür fiel hier zur Abwechslung der Kosten-Aspekt meist unter den Tisch. Geplant waren (mit Stand
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