Lyon - A.M.O.R. 01
erschloss sich ihm nicht.
Das Schönste am zeitweisen Erwachen aus dem Tiefschlaf blieb die unbändige Gier nach Nahrung und der mitreißende Rausch der Hatz. Aber er wusste, die stimulierende Jagd war rasch passé, sobald die Opfer ihn erblickten, sein Charisma sie beeinflusste und sie seinem Willen wie dressierte Hunde folgten. Dazu brauchte er nicht einmal mentale Tricks anzuwenden. Amorphen fragten nicht, sie nahmen. Die Vorfreude stets erregender als die Erfüllung.
Jedes Mal, wenn er nach ungefähr einem Jahr aus dem Tiefschlaf erwachte, drängte es ihn zurück in seine geheime Schlafkammer, nachdem er sich ausgiebig genährt hatte. Die Furcht, er könnte einem seiner raren Spezies begegnen und Verachtung in dessen Augen lesen, weil er als König der Amorphen abgedankt hatte und verschwunden war, als sie ihn am nötigsten gebraucht hatten, ließ ihn nur unabdingbare Zeit unter Menschen verbringen.
Er hatte es nur durch einen Handel mit dem Feind geschafft, den Krieg mit den Magycen zu beenden. Niemand wusste davon. Sein Abtreten als Bedingung für den Frieden. Die Schmach, einen Deal mit der verfeindeten und zahlenmäßig weit überlegenen Vampirrasse eingegangen zu sein, brach ihm das Herz, doch er hatte keine andere Möglichkeit zur Rettung der Amorphen gesehen.
Lyon senkte den Kopf, berührte mit den Lippen ihren Hals und stockte. Unmöglich, gegen seine Instinkte zu handeln, egal, wie ausgehungert er war. Verlangen benebelte seinen Geist und er rügte sich. Er lebte nicht, um sich Vergnügen zu gönnen. Seine Aufgabe war und blieb auf ewig, die Amorphen zu beschützen, mit oder ohne königliches Diadem, mit oder ohne Reich. Und dafür musste er schleunigst wieder von der Bildfläche verschwinden.
Er legte seinen Mund auf ihre Halsschlagader und leckte prüfend mit der Zungenspitze darüber. Seine magischen Fähigkeiten bestätigten ihm, was er vermutet hatte. Doch derart heftig, dass alle Nervenbahnen gleichzeitig explodierten. Jede Synapse jagte unterschiedliche Botschaften mit demselben Kontext wie elektrische Ladungen durch seinen Körper. Wie nach einem Stromschlag katapultierte er sich zurück und kam einige Meter entfernt auf die Füße.
Mein Gott! Er würde sich für verrückt erklären, wären seine Sinne nicht untrüglich. Lyon strich sich das Haar nach hinten. Was er lange befürchtet hatte, war eingetreten. Er hatte seinen Eid soeben gebrochen. Kurz schloss er die Augen und atmete tief durch, während sein Innerstes sich schmerzlich zusammenzog. Er war ausschließlich seinem drängenden Durst gefolgt, hatte jedwede Zeichen missdeutet. Das war unentschuldbar. Er räusperte sich.
„Verzeih mir. Ich ahnte nicht, dass du ein Amorph bist.“
Seine Stimme klang belegt nach einem Jahr, ohne zu sprechen. Er musterte sie aus der Entfernung. Sie rührte sich nicht. Eine große Katze mit schwarzen Flecken auf ockerfarbenem Fell huschte plötzlich über den Weg und verschwand im Unterholz. Lyon sah ihr nach, widmete aber der Frau sofort wieder seine Aufmerksamkeit. Unbehagen stieg in ihm auf, weil sie nicht aufstand, während das unerwartet jähe Erwachen, der Hunger und das Pochen seiner Fänge seine gestressten Nerven reizten.
„Bitte steh doch auf. Es war ein … Missverständnis.“ Er konnte ihr schlecht sagen, dass er ihr Blut nicht wollte. Er hatte nicht vor, sie auch noch zu kränken. Es war immerhin eine große Ehre für jeden Amorphen, seinem König Kraft zu schenken.
Die Glieder der blonden Frau zitterten. Himmel, was hatte er angerichtet? Er trat vor, beugte sich hinab.
Ein nackter Fuß traf ihn im Gesicht, brach ihm fast die Nase und einen Moment sah er Sterne. Er schüttelte die Benommenheit ab und hechtete ihr intuitiv durch den dichten Tannenwald hinterher. Mit einem gewaltigen Satz holte er sie ein, packte sie und hob sie hoch.
Der Duft ihres Blutes streifte seinen Geruchssinn und augenblicklich quälte ihn ein schlechtes Gewissen. Sie musste sich auf der Flucht an den Tannenzweigen verletzt haben. Er setzte sie behutsam ab, aber bevor er sie losließ, sagte er: „Du musst nicht vor mir weglaufen. Ich tu dir doch nichts.“
Warum hatte sie solche Angst? Er witterte. Ihr Geruch war der eines Menschen. Ob sie sich irgendwann in einen Amorphen verwandelte, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, selbst er nicht. Jedoch war er nicht imstande, sie zu beißen. Amorphen nahmen sich, ohne zu fragen, von allem und jedem, nur nicht von ihrer Spezies. Es war das höchste Gesetz. Seine
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