Lyon - A.M.O.R. 01
Eigentlich lag sie stets richtig mit ihren Einschätzungen bei Personen, doch ihn konnte sie nicht einordnen. Sie blieb skeptisch. „Vierunddreißig.“
„Wer sind deine Eltern?“
„Keine Ahnung. Aber was …“
„Wo bist du aufgewachsen?“ Sein Tonfall klang gepeinigt, als könnte er etwas für ihre Vergangenheit, deshalb sah sie ihm die penetrante Fragerei nach und antwortete.
„Hier in Maine. Im hiesigen Kloster.“
„Heilige Sch…“
Adina verkniff sich das unangebrachte Grinsen, das sich nur auf ihr Gesicht stehlen wollte, weil sie derart nervös war. Sie ließ ihn absichtlich in dem Glauben, sie hätte das Gelübde abgelegt und sich als Profess einem geistlichen Orden angeschlossen. Unter Umständen hielt ihn das eher ab … wovon auch immer. Zumindest kam er nicht näher. Ihr Puls raste immer noch weit über dem Normaltempo. Dieser Mann zog sie auf geheimnisvolle Weise in seinen Bann. Litt sie am Stockholm-Syndrom? Ihr Medizinstudium und die Pädiatrieweiterbildung hatten ihr Denken geprägt, doch das brachte ihr momentan überhaupt nichts. Denn dieses unwirkliche Gespräch nach ihrem eigentlich tödlichen Absturz, seine Überrumpelung, seine anziehende und gleichsam abschreckende Wirkung – all das verwandelte ihren sonst einigermaßen funktionierenden Schädel in ein verdammtes Vakuum. Was wollte der Kerl?
Plötzlich kam Bewegung in Lyon. Er schritt mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf und ab. Den Lauten nach, die sie wohl nur vernahm, weil ihre Veränderungen ihr ein sensibleres Gehör verpasst hatten, vermutete sie, dass er ein Für und Wider abwog. Er versteckte nicht viel von seinem Wesen, wie sie zuerst angenommen hatte. Er benahm sich wie ein gehetztes Tier, hatte wohl wirklich nicht vor, ihr zu schaden, sondern wusste nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Das dämmerte ihr so langsam. Sie kniff die Lider zusammen und versuchte, die wirren Empfindungen von sich zu schieben. Wahrnehmungsverzerrung oder die Realität? Sie war sich nicht sicher, welchem Gedanken sie Vertrauen schenken sollte. Dennoch, die dringendste Frage lautete, wie sollte sie sich weiter verhalten?
„Darf ich gehen?“
Seine Gesichtszüge veränderten sich für einen Augenblick, muteten weich, sinnlich, absolut unwiderstehlich verführerisch an. In seinen schwarzen Augen glomm … Sorge? Dann zog ein Schatten über sein Gesicht, die Vorstellung war vorüber. Er bot ihr erneut die Hand an.
„Ich bringe dich.“
Die Tafel war voll besetzt, als Prinz Tehlic Tomac sich erhob und sein Rotweinglas ans Herz hielt. „Auf Monarch Gaudor Tomac, möge er die Magycen weiterhin mit Geschick und Tatkraft durch die düsteren Gewässer dieses Jahrtausends führen. Herzlichen Glückwunsch, Vater. Mutter.“
An die 200 Männer und Frauen streckten Kelche in ihre Richtung und ließen sich die Köstlichkeiten gesittet schmecken. 988 Lebensjahre waren schon eine enorme Leistung, vor allem, 835 davon zu herrschen. Sein Vater würde als Monarch, der den grausamen Krieg gegen die Amorphen gewonnen hatte, in die Geschichte eingehen.
Tehlics Blick schweifte über die Gäste. So selten diese Zusammenkünfte der Oberschicht stattfanden, er hasste sie. Die Alten folgten steif den Gesetzen, lethargisch und leichtgläubig. Er verkniff sich ein verächtliches Schmunzeln und nippte an seinem Pinot Noir, während er sich mit dem Premier zu seiner Linken über die neusten Ergebnisse einer Volksbefragung unterhielt, die deutlich machten, dass die Bevölkerung inzwischen ahnte, woran seit Jahren im FAL – einem geheimen, unterirdischen Großlabor – geforscht wurde. Der Premierminister sülzte ihn seit einer Stunde voll, obgleich man es auch in einem Satz auf den Punkt bringen konnte: Die Kräfte der Magycen ließen nach. Vor allem die Wirksamkeit ihrer Magie, die jedem Magyc heilig war, verringerte sich von Jahr zu Jahr. Und das, obwohl sie die mächtigste Vampirrasse der Welt waren. Warum, seit wann und wie man dem entgegenwirken konnte – die Wissenschaft schien ratlos.
Tehlic lächelte milde. Der Leiter des Foresight Analytic Labs Aaron Neff stand seit Jahrhunderten ganz oben auf seiner Gehaltsliste. Keiner von den blasierten Machthabern musste mehr wissen als nötig. Allen voran sein alter Vater und dessen Getreue.
Tehlic nickte jedem einzelnen der Anwesenden im Kaminzimmer zu und legte Gaudor Tomac die Hand auf den Rücken. „Ich ziehe mich zurück, Vater, und kümmere mich um die Geschäfte. Lass dich weiter
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