Machtkampf
Italiener, hatte er vor einigen Jahren kennengelernt, nachdem einer der dramatischsten Kriminalfälle aufgeklärt war, den es jemals in Geislingen zu bearbeiten gab. Im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2006 war mitten in der Fußgängerzone der damalige Fußballbundestrainer Jürgen Klinsmann entführt worden, der in dieser Stadt als Jugendlicher einst das Fußballspielen gelernt hatte. Erst nach Aufklärung des Falles hatte Häberle erfahren, dass der Fußballstar oftmals beim Latino-Wirt zu Gast gewesen war. Während seiner Zeit beim FC Mailand war er sogar einmal nach einem Spiel mit einigen seiner italienischen Vereinskameraden kurz per Auto über die Alpen ins heimische Geislingen gedüst, um eine Pizza zu essen. Ganz stolz war der Latino-Wirt auf ein Foto, das einen seiner Söhne als Kleinkind auf dem Schoß von Klinsmann zeigte.
Als Häberle diese Anekdoten im Kreise seiner Kollegen erzählt hatte und sie sich gerade zuprosteten, eilte der Wirt mit einem Fotoalbum herbei. Er hatte offenbar die Erzählungen mitbekommen und legte zum Beweis für deren Richtigkeit stolz das Fotoalbum mit besagtem Bild vor.
»Der Fall damals war aufregend«, spielte Linkohr wieder auf die Entführung an. »Hat nur noch gefehlt, dass wir Weltmeister geworden wären.«
»Aber Deutschland wurde dann doch ›Weltmeister der Herzen‹«, schaltete sich Vanessa ein, die an seiner Seite saß. »Wenn schon mal der ganz große Wunsch nicht in Erfüllung geht, dann bleibt immer noch der Traum davon.«
Linkohr stockte der Atem. War das wieder so eine versteckte Andeutung?
»Ich werde euch alle auch in angenehmer Erinnerung behalten«, fuhr sie fort und lächelte in die Runde. »Eine aufregende Etappe meiner Laufbahn war das. Aber ab Januar bin ich weg – abgeordnet nach Stuttgart. Zum LKA.«
Linkohr konnte sich nicht darüber freuen. Er sah sich bereits, um Jahrzehnte gealtert, in einem verstaubten Büro einer unbedeutenden Kriminaldienststelle irgendwo in der Provinz, ausgestattet mit Techniken aus den Anfangszeiten des Computers, während die Landespolizeipräsidentin dann vermutlich flammende Reden hielt und von der Schlagkraft einer modernen Polizei fabulierte. Er stellte sich vor, wie Präsidentin Vanessa – wie hieß sie eigentlich mit Nachnamen? – in die Kameras strahlte. Den Gedanken, wie sie nackt aussehen würde, verwarf er sofort wieder.
Vanessa war ohnehin nichts für ihn. Wahrscheinlich würde er sie eines Tages siezen müssen.
Zwei Wochen später war auch Dieter Kugler wieder daheim. Der Aufenthalt im Krankenhaus hatte ihn zumindest körperlich fit gemacht. Psychisch fühlte er sich weiterhin schlecht. Noch immer plagten ihn Albträume über Gefängnisse und tote Kinder.
Die schrecklichen Wochen und Monate von Rimmelbach hafteten an ihm wie ein Fluch. Er wollte nie mehr kämpfen. Sich nie mehr rechtfertigen müssen. Nein, dieses eine Jahr in Rimmelbach war der Vorhof zur Hölle gewesen.
Gemeinsam mit Franziska hatte er entschieden, das Pfarrhaus so schnell wie möglich zu räumen und auch von Halzhausen wegzuziehen. Wohin, das würden sie niemandem sagen.
Den Oberkirchenrat hatte er bereits gebeten, ihn in den vorzeitigen Ruhestand zu versetzen. Das schloss aber nicht aus, dass er sich irgendwo wieder kirchlich engagieren würde – aber nie mehr in verantwortlicher Position.
»Ich habe nie gedacht, dass sich Menschen gegenseitig so viel Schlimmes antun können«, sagte er seiner Frau beim gemeinsamen Kaffeetrinken am Totensonntag.
»Aber du hast gesehen«, erwiderte Franziska ruhig, »mag manches noch so aussichtslos erscheinen – der Herr weist dir einen Weg, wenn du nur drauf vertraust.«
»Aber warum müssen dazu erst Menschen sterben«, zweifelte er, »warum ausgerechnet der kleine Manuel? Kannst du mir das erklären?«
Franziska überlegte – und dann fiel ihr wieder ein, wie ihr Mann schon oft die verschlungenen Wege Gottes erklärt hatte. »Denk an deine Stickerei«, erinnerte sie ihn und musste an das Stück Stoff denken, dessen Rückseite nur ein wirres Durcheinander bunter Fäden zeigte, die scheinbar keinerlei Sinn machten, während vorne ein wunderschöner Baum zu sehen war.
Kugler lächelte seine Frau dankbar an. »Ja«, sagte er, »wir Menschen hadern oft mit dem Schicksal – und können doch nur die eine Seite davon sehen. Aber irgendwann kommt der Tag, da werden wir das große Ganze erkennen.«
E N D E
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