Machtkampf
1
»Wenn das an die Öffentlichkeit dringt, kann ich mich gleich begraben lassen.« Die Stimme des Mannes war schwach geworden und wollte nicht so recht zu seinem hünenhaften Erscheinungsbild passen. Er saß zusammengesunken auf dem unbequemen Stuhl, den ihm der Kriminalist angeboten hatte. »Und Sie müssen wirklich dieser unglaubwürdigen Anzeige nachgehen – ohne Rücksicht auf die Folgen, die das für mich haben wird?« Seine Stirn war schweißnass geworden. Er zitterte. »Sind Sie sich der Tragweite dessen bewusst, was dies bedeutet?«
Der Beamte, der vor sich einige Akten ausgebreitet hatte, ließ ein paar Sekunden verstreichen. »Wir müssen«, sagte er schließlich ruhig. Es klang bedauernd und geradezu väterlich. In all den Jahren, seit er für Sexualdelikte zuständig war, hatte Kriminalhauptkommissar Martin Wissmut ein Gespür für den Umgang mit Beschuldigten entwickelt, die plötzlich mit einem schockierenden Sachverhalt konfrontiert wurden. Der Mann, dem die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben stand, war bestimmt kein brutaler Vergewaltiger, keiner, der Frauen auflauerte und sie misshandelte. Es war ein bislang unbescholtener Mann, 63 Jahre alt, Familienvater noch dazu. Und was weitaus schlimmer wog: Er war Pfarrer. Es würde nicht mehr lange dauern, bis in dem kleinen Dorf, das ihm als evangelischem Seelsorger anvertraut war, jeder mit den Fingern auf ihn zeigte.
In der Stille, die sich breitgemacht hatte, war nur sein schwerer Atem zu hören. »Und jetzt?«, fragte er mit belegter Stimme. Sie wussten beide um die Dramatik dieses Augenblicks.
Wissmut sah in wässrige Augen. »Wir machen ein Protokoll und dann wird die Staatsanwaltschaft entscheiden, wie’s weitergeht.«
Der Mann strich sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Die Staatsanwaltschaft«, flüsterte er fassungslos. »Und das Kind? Der Bub? Das wird alles einfach so hingenommen?« Er rang nach Worten und hatte Mühe, die Fassung zu bewahren.
»Es wird ein Glaubwürdigkeitsgutachten geben«, erklärte Wissmut. »Und ich geh mal davon aus, dass auch die Mutter noch ausgiebig befragt wird.«
»Die Mutter«, wiederholte der Beschuldigte. »Warum kommt die denn nicht zu mir und redet mit mir? Warum geht sie gleich zur Polizei und erstattet Anzeige?«
Wissmut wollte nicht darauf eingehen. Er rückte seine Brille zurecht und wandte sich seinem Computerbildschirm zu. »Sie sagen also«, konstatierte er emotionslos, »dass Sie keine Erklärung dafür haben, wie es zu diesen Beschuldigungen kommen konnte.«
Sein Gegenüber nestelte am Kragen der Freizeitjacke und schlug die Beine mit den schmutzigen Schuhen übereinander. »So wahr mir Gott helfe – dafür gibt es keine Erklärung.« Er überlegte, während der Kriminalist auf der Tastatur zu tippen begann. »Ich bin fassungslos. Wie kann ein so kleiner, schwächlicher Bub so etwas erfinden? Das ist doch völlig irrational.«
Wissmut drehte sich um. »Sie haben ja gehört, was ich Ihnen vorgelesen habe. Die Mutter schildert es ziemlich detailliert. Nun kommt’s natürlich drauf an, was der Bub beim Kinderpsychologen sagt.«
Der Angeschuldigte schloss die Augen. Er versuchte, sich den kleinen Manuel vorzustellen. Schüchtern, verängstigt, kontaktarm. Kaum in der Lage, sich zu artikulieren. Ein Kind, das bisher wenig Zuneigung erfahren hatte und vermutlich vor dem Fernseher ruhiggestellt wurde. Wie konnte dieser Manuel etwas erfinden, das weit über die Vorstellungswelt so eines Kindes hinausging?
»Sie sagen also«, holte ihn die Stimme des Beamten wieder aus den Gedanken zurück, »dass Ihrer Ansicht nach die Behauptungen von Frau Kowick bezüglich der Vorkommnisse im Religionsunterricht frei erfunden sind.«
Pfarrer Dieter Kugler nickte und kämpfte mit aufkommender Übelkeit. Er spürte, dass er am Beginn eines langen Leidensweges stand. Wenn’s ganz schlimm kam, würde er ihn selbst beenden.
Es war ein warmer, aber gewittriger Herbsttag gewesen. Auf der Hochfläche der östlichen Schwäbischen Alb, irgendwo zwischen Heidenheim und Geislingen an der Steige, hatten die Felder bereits die bräunliche Farbe angenommen, die vom nahenden Herbst kündet. Der Landwirt, der nach einem kurzen Gewitterregen noch in der Abenddämmerung seinen abgeernteten Acker umpflügte, näherte sich mit seinem alten Traktor dem Waldrand. Zu dieser Stunde, wenn Anfang Oktober bereits kurz vor 19 Uhr die Sonne hinterm Horizont verschwand, konnte es vorkommen, dass er hier, weit
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