Machtlos
dazu bewogen hatte, keine familiären Bande zu knüpfen. Er wollte nicht eines Tages eine um die Wahrheit betrogene Ehefrau und vom Vater enttäuschte Kinder zurücklassen.
Burroughs warf einen Blick auf seine Armbanduhr und griff nach seiner Aktentasche. »Kommen Sie noch mit zum Weihnachtsmarkt auf dem Rathausmarkt? Ich bin dort mit den Kollegen vom Konsulat verabredet.«
»Nein, ich habe noch zu tun. Wann können wir damit rechnen, dass Sie Noor al-Almawi nach Deutschland überstellen?«
Burroughs sah ihn überrascht an. »Wie kommen Sie darauf, dass eine solche Überstellung zur Diskussion steht?«
»Sie besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit.«
Burroughs zog eine Augenbraue hoch. »Das hat Ihre Behörde vor drei Wochen auch nicht weiter gestört.«
Weil es da noch niemand gewusst hatte. Noor al-Almawi hatte vor einigen Wochen den Einbürgerungstest absolviert. Die Dokumente waren erst kurz vor ihrem Verschwinden fertiggestellt worden, und es war nicht mehr möglich gewesen, die Einbürgerung zurückzunehmen. »Vor drei Wochen waren die Vorzeichen anders«, sagte Mayer und griff ebenfalls nach seinen Sachen. »Ich bin angewiesen …«
»Diese Frau steckt voller Informationen«, fiel Burroughs ihm ins Wort und hielt ihm die Tür auf. »Jetzt, wo wir sie zum Reden gebracht haben, können wir sie nicht einfach hierher zurückbringen.«
»Sie hat ein Anrecht darauf.«
Sie erreichten den Fahrstuhl, der just in diesem Augenblick seine Türen öffnete. »Sie hat all ihre Rechte verwirkt, indem sie sich diesen Terroristen angeschlossen hat«, erwiderte Burroughs knapp, während er den Fahrstuhl betrat. »Glauben Sie mir, Eric, wir wollen die Sache ebenso schnell zum Abschluss bringen wie Sie.« Sein Finger verharrte auf dem Knopf für die Tiefgarage, und Mayer spürte plötzlich die unterschwellige Nervosität des Amerikaners.
»Irgendwo in dieser Stadt wartet ein Schläfer auf seinen Weckruf«, fuhr Burroughs fort, kurz bevor sich die Türen mit einem leisen Zischen schlossen. »Wir können uns keine falschen Sentimentalitäten leisten.« Das Letzte, was Mayer sah, waren Burroughs’ Fußspitzen, die in einem unbekannten Takt auf und ab wippten. Was fürchtete der Mann von der CIA ? Ihn trieb mehr als nur die Angst vor dem nächsten Anschlag.
* * *
Es gab nichts außer ihren eigenen Gedanken und dem Zwang, ihnen zuzuhören beim Kreisen und Wandern, beim Suchen nach Lösungen und der verzweifelten Auflehnung. Es gab nichts, womit sie sich hätte ablenken können. Nichts, was sie zum Schweigen brachte. Und das war fast das Schlimmste in diesen beiden ersten Tagen.
Valerie lebte wie auf einer Insel, herausgelöst aus dem Strom der Zeit und des Lebens, das dort draußen weiter seinen Lauf nahm. Ohne sie. Bislang war sie mit der Hoffnung aufgestanden, dass es der letzte Tag sein würde in dieser erbärmlichen gelb gestrichenen Zelle. Dass alles, was geschehen war, sich als Missverständnis entpuppte und sie wieder hinausgehen konnte in ihre Welt. Ihr Leben wiederaufnehmen, als wäre nichts gewesen. Aber dann hatte Mayer ihr die Fotos gezeigt. Das eine Foto.
Valeries Finger krampften sich um den rauhen Stoff der Decke, die sie über ihre Schultern gezogen hatte. Es steckte mehr hinter allem, so viel mehr, als sie bislang geglaubt hatte. Das war ihr in jenem Augenblick klar geworden. Es gab kein Zurück, und es gab keine Hoffnung mehr. Stattdessen wurde die Vergangenheit plötzlich wieder lebendig. Valerie schloss die Augen. Sie würden mehr herausfinden. Alles. Und sie würden es gegen sie verwenden. Und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wo Noor jetzt war. Was sie mit ihr machten.
Es war einer der ersten zaghaften Frühlingstage in Hamburg gewesen, an dem sie Noor das erste Mal begegnet war. Der Himmel war von strahlendem Blau gewesen, die Luft noch kalt, aber schon voller Gerüche und Ahnungen, die das Herz schneller schlagen ließen. Valerie wohnte damals als Referendarin bei der Staatsanwaltschaft vor dem Landgericht einem Prozess bei, bei dem Noor als medizinische Gutachterin geladen war. Es ging um die Misshandlung einer jungen Frau in einer Asylbewerberunterkunft. Noor hatte den Fall zur Anzeige gebracht, nachdem sie die junge Frau, fast noch ein Mädchen, ärztlich behandelt hatte. Es war ein spektakulärer Fall geworden, der großes Interesse bei den Medien verursacht und eine politische Diskussion ausgelöst hatte über die Zustände in den Unterkünften der Hansestadt. Und es war Noors
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