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Schwaben-Zorn

Titel: Schwaben-Zorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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1. Kapitel
    Die Frau an der Orgel blickte erschrocken von ihrem Notenbuch auf, als sie das laute Schreien hörte.
    »Wo warst du, als es passierte?«, rief eine kräftige männliche Stimme, »warum hast du ihr nicht geholfen?« Die Worte hallten laut durchs Kirchenschiff.
    Sie hatte den Pfarrer um Erlaubnis gebeten, das betagte, aber hervorragend gewartete Instrument der Tübinger Vorort-Kirche benutzen, ihre vor Jahren erlernte Fähigkeit wieder auffrischen zu dürfen. Dieser war Zeuge ihrer musikalischen Fertigkeit geworden, hatte auf ihren Wunsch erfreut reagiert. »Wenn es Ihnen Spaß macht, unsere Orgel zu spielen, möchten wir Sie dabei gern unterstützen.«
    Sie hatte einen eigenen Schlüssel für das Gotteshaus erhalten, pflegte seither vor allem am frühen Mittag unter der Woche zu üben, weil die Kirche zu dieser Zeit nicht anderweitig benötigt wurde.
    »Warum hast du nichts getan?« Die Stimme des Mannes wurde lauter, verlieh seinen Worten einen vorwurfsvoll drohenden Ton.
    Weil sie vom Pfarrer wusste, dass sich selten ein Fremder in das Gotteshaus verirrte, hatte sie die Eingangstür nicht abgeschlossen. Die evangelische Kirche in Pfrondorf hatte keine besonderen Schätze zu bieten, die Touristen oder Kunstinteressenten anzulocken vermochten. Gemeindemitglieder erschienen im Normalfall zu den gewohnten Gottesdienstzeiten.
    Nicht nur die seltsamen Worte, allein schon das Auftauchen des Mannes war außergewöhnlich.
    Sie löste sich von der schmalen Orgelbank, wandte sich zur Seite; der Stelle der Empore zu, die ihr einen Blick ins Innere des Kirchenschiffs ermöglichte. Von unten drang wütendes Scharren und Stampfen zu ihr hoch, dann hallte wieder die kräftige, jetzt deutlich von Zorn und Aggressionen geprägte Stimme durch das Gotteshaus. »Was hast du davon mir das anzutun, du grausamer Gott?«
    Sie schob sich an den eng hintereinander aufgereihten Sitzbänken vorbei, erklomm einen der wackligen Stühle, die unmittelbar vor der Holzbrüstung standen, stützte sich an dessen Lehne ab, starrte nach unten.
    Der Mann stand aufrecht im Mittelgang der Kirche, blickte zu dem Kreuz hoch, das auf dem Altar thronte. Er trug eine dunkle Regenjacke, deren Kapuze auf seinem Rücken hing. Sie sah das Profil seines Gesichts von der Seite, merkte, dass er noch relativ jung, wahrscheinlich unter vierzig war, groß und kräftig, von geradezu stämmiger Figur. Er schien in Gedanken versunken, starrte wie in Trance nach oben.
    Sie wollte nicht stören, den Mann nicht aus seiner – wenn auch zornigen – Andacht reißen, hatte ihren unsicheren Standort aber nicht bedacht. Der Stuhl war der Belastung nicht länger gewachsen, rutschte zur Seite, schlug mit lautem Getöse auf dem Boden der Empore auf.
    Erschrocken sprang sie zurück, stützte sich an der Bank hinter ihr ab. Sie benötigte mehrere Sekunden Halt zu finden, richtete sich erneut auf, trat nach vorne an die Brüstung.
    Als sie wieder nach unten blickte, war der Mann verschwunden. Einzig das Schlagen der Eingangstür verriet, dass jemand die Kirche verlassen hatte.

2. Kapitel
    Sie stand mit weit ausgebreiteten Armen mitten auf dem regennassen Beton am Rand des Gartens, starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die Kante des Daches. Die Nacht war weit fortgeschritten, Stille lastete über der Umgebung. Kein Rascheln eines unter den Büschen verborgenen Tieres. Nicht ein Windstoß, der durch die dank der kalten Jahreszeit fast vollständig blattlosen Zweige fuhr. Kein Auto, das irgendwo in der Umgebung mit röhrendem Motor die Ruhe der Nacht terrorisierte – nur das gleichmäßige sanfte Plätschern des Nieselregens, der seit Stunden über dem Land niederging.
    Sie starrte auf die Kante des Daches, sah die leicht bekleidete Gestalt des Mädchens über die nassen Ziegel balancieren, schrie, bettelte, flehte zu Gott und allen Mächten dieses Universums, ihr Kind zu bewahren und es auf Engelsflügeln wieder ins Haus zurückzugeleiten. Das Mädchen war in Trance, unzugänglich für alle Rufe, die ihr entgegenklangen, unempfänglich auch für die verzweifelten Versuche des Mannes, sie mit ausgestreckten Armen von der Kante des Dachfensters aus zu erreichen.
    Sie zitterte vor Angst, starrte nach oben, bettelte um ein Wunder, dass ihrem Kind nichts geschehen möge, spürte doch immer deutlicher, wie irreal, ohne jede Grundlage ihre Wünsche waren. Was hatten sie sich gefreut vor wenigen Wochen, als die Ärzte den Zustand der jungen, fast schon erwachsenen Frau als

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