Maedchenauge
Kommenda, ich kann Sie gleich beruhigen. Ihrer Familie geht es ausgezeichnet. Und es kann auch nichts geschehen. Ich habe Ihre Familie unter Polizeischutz stellen lassen.«
»Was? Wieso das? Ich will sofort nach Hause und nicht in diesem Gebäude …«
»Sie müssen sich nicht die geringsten Sorgen machen. Diese Aktion richtet sich nicht gegen Sie, verstehen Sie mich? Mein Name ist übrigens Lily Horn. Aber bevor ich weiterspreche, habe ich eine dringende Bitte an Sie. Alles, was in diesem Gespräch erwähnt wird, muss vorläufig unter uns bleiben. Ausnahmslos. Auch gegenüber Ihren Angehörigen oder Freunden. Wäre das möglich?«
»Aber ich bin volljährig. Wieso darf ich denn nicht …?«
»Es geht um Ihren Schutz. Und darum, jemanden zu verhaften, der Schlimmes angerichtet hat. Also, können Sie mir versprechen, unser Gespräch vertraulich zu behandeln?«
Nach einer kleinen Pause erst antwortete Carla-Sophie Kommenda: »Gut, einverstanden, aber jetzt möchte ich wissen, was …«
»Es wird nicht lange dauern. Waren Sie vor zehn Jahren auf einem Sommercamp in Klausen?«
Die Pause geriet diesmal länger, bis ein kurzes, hörbar überraschtes »Ja« zu vernehmen war.
»Haben Sie dort drei Mädchen kennengelernt, sie fotografiert und später jeder von ihnen ein Bild geschickt? Mit einem Gruß von Ihnen und Ihrer Unterschrift?«
»Woher … wieso wissen Sie das?«
»Frau Kommenda, in Klausen ist damals etwas geschehen. Etwas Unangenehmes, über das später niemand geredet hat. Ich weiß, dass es absolut nicht ideal ist, per Telefon über diese Dinge zu sprechen. Aber ich muss wissen, was Ihnen und den drei Mädchen passiert ist. Und zwar sofort. Es ist von enormer Bedeutung. Wenn Sie mir helfen, werde ich die verantwortliche Person zur Rechenschaft ziehen. Das schwöre ich Ihnen. Was ist damals vorgefallen?«
Nichts war zu hören. Als wäre die Leitung tot.
»Frau Kommenda? Ich bitte Sie aus tiefstem Herzen …«
Eine halbe Minute verstrich in vollkommener Stille.
Bis man den Atem der jungen Frau stärker hörte. »Es ist so lange her … Ich habe immer gehofft, dass Gras über die Sache gewachsen ist, und dass ich irgendwann alles vergessen kann … vor allem aber, dass dieser Mensch nie mehr in meinem Leben auftaucht. Und bis jetzt war das auch so.«
»Und das wird so bleiben. Er wird nicht auftauchen. Besonders dann nicht, wenn Sie mir helfen. Ich geben Ihnen mein Ehrenwort.«
»Gut, aber … wo soll ich anfangen?«
»Ganz wie Sie möchten. Lassen Sie sich ruhig Zeit und erzählen Sie mir bitte einfach, woran Sie sich erinnern können.«
Zuletzt hatte Lily ganz unaufgeregt und gelassen gesprochen. Als ginge es um gar nichts Besonderes. Als stünde nicht alles auf dem Spiel, auch nicht das Leben von Menschen.
Was Carla-Sophie Kommenda Vertrauen einflößte. Sie fing an, zurückzudenken und das Erinnerte in Worte zu fassen.
»Wir vier haben uns auf Anhieb gut verstanden«, sagte sie. »Und überhaupt war die Stimmung dort super … Natürlich hat das Sommercamp den Zweck gehabt, den Papst zu sehen, aber eigentlich ist es vielen Teilnehmern vor allem darum gegangen, Spaß zu haben … Die meisten Betreuer aus Österreich waren nett und haben uns viel erlaubt. Aber einer von ihnen … Es war so, dass … An einem Abend am Ende der ersten Wochen hat er uns noch zu sich eingeladen. Er und die anderen Betreuer haben nämlich in Hotelzimmern gewohnt, während wir in Zelten übernachtet haben. Und in seinem Zimmer … Anfangs war es einfach ein netter Abend. Irgendwann hat er uns gefragt, ob wir schon Alkohol trinken. Wir haben irrsinnig gelacht und natürlich gesagt, dass wir selbstverständlich schon … Wir haben eben getan, als wären wir schon unglaublich reif und erwachsen. Und er hat gemeint: ›Gut, dann trinken wir eine Kleinigkeit zusammen.‹ Wir haben wieder blöd gelacht, und er hat gefragt: ›Also ich hab’s ja gewusst, ihr traut euch nicht, ihr seid noch kleine Mädchen.‹ Und wir haben natürlich protestiert und … dann hat er eine Flasche Rotwein aufgemacht und fünf Gläser hingestellt … Ja, da haben wir eben angefangen … Wir haben natürlich viel zu schnell getrunken … als wäre es Himbeersaft … und in zu großen Schlucken … Anfangs haben wir uns noch lustiger als vorher gefühlt … und er hat dauernd nachgeschenkt. Bis wir vier beschwipst waren. Da hat er uns aufgefordert, dass wir uns einmal wie gute Freundinnen küssen sollen … Bis dahin war es immer noch lustig,
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