Maedchenauge
von einer angenehmen Erschöpfung erfüllt worden. Darum hatte sie bloß das Allernötigste getan. Sie hatte den Strom angedreht, die Koffer geöffnet und zum Teil ausgeräumt, kurz geduscht, sich in einen alten Pyjama geworfen und sich ein Glas von dem Grünen Veltliner eingeschenkt, der leicht verstaubt in der Küche herumstand. Der Weißwein sollte die letzten widerspenstigen Gedanken bändigen, die durch ihr Gehirn geisterten. Zuvor hatte sie die Fenster zum Rooseveltplatz aufgerissen, frische Luft war hereingeströmt, Lily hatte den Wind vernommen, der die Blätter der Bäume zum Rascheln brachte, und aus der Ferne hatte sich ganz leise das Rauschen des Autoverkehrs gemeldet.
An ihrem Weinglas nippend blätterte sie unaufmerksam die Zeitung des Taxilenkers durch, die jüngste Ausgabe des Boulevardblatts Clip24 . Lilys Müdigkeit setzte jeglicher Widerstandskraft zu. Nur deshalb schmiss sie die mit bunten Bildern und reißerisch formulierten Berichten aufwartende Zeitung nicht sofort weg. Und nur darum blieb ihr Blick an einem Kommentar der Herausgeberin Sasha Bonino hängen: Täglich frage ich mich: Wann wird Vizebürgermeisterin Marina Lohner endlich gegen die wachsende Kriminalität vorgehen? Sie verspricht uns ständig mehr Sicherheit. Wir Frauen möchten aufatmen können. Und vor allem unsere Kinder. Die Zustände in Wien schreien zum Himmel. Clip24 fordert ultimativ: Ab sofort null Toleranz für Straftäter!
Laut gähnend wunderte sich Lily, was die Wiener Vizebürgermeisterin mit der Kriminalitätsbekämpfung zu tun haben sollte. Als ob dafür nicht die Polizei zuständig wäre. Offenbar genügten ein paar Monate Abwesenheit von Wien, um das Verständnis für lokale Verhältnisse einzubüßen.
Im nächsten Moment entsann sich Lily eines riesigen Werbeplakats. Als das Taxi vor einer Ampel an einer Kreuzung im zweiten Bezirk hatte anhalten müssen, war es ihr aufgefallen. Das Plakat hatte aus einem Foto der gewohnt elegant gekleideten Vizebürgermeisterin bestanden, die einem uniformierten Polizisten die Hand schüttelte und angestrengt in die Kamera lachte. Daneben hatten fette Lettern verkündet: Unser Wien. Sicheres Wien.
Offenbar existierten in Wien Probleme, die mit Marina Lohner und der Kriminalitätsrate zusammenhingen. Sasha Boninos Kommentar war gewiss nicht zufällig mit einem Bild illustriert worden, das die sonst attraktiv wirkende Vizebürgermeisterin mit vergrämter, zerfurchter Miene zeigte. Wobei ein Teil des Problems der Irrglaube Marina Lohners sein mochte, mit Slogans wie Unser Wien. Sicheres Wien die sorgfältig geschürte Hysterie aus dem Hause Bonino parieren zu können.
Lily verspürte nicht die geringste Lust, sich weiter damit zu befassen. Jedenfalls nicht jetzt. Missmutig wollte sie Clip24 gerade in hohem Bogen von sich werfen, doch plötzlich hielt sie inne.
Sie sah etwas durch die Luft flattern. Es war ein Nachtfalter, der, vom Licht angelockt, seinen unerschrockenen Weg in Lilys Wohnung gefunden hatte. Dort taumelte er wie blind herum, krachte gegen die Decke, flog mutig weiter, kollidierte mit einem Schrank, danach mit der Deckenlampe, und ließ sich schließlich ermattet auf einer Zimmerwand nieder. Er hatte alle Widerstände überwunden und war angekommen.
Lily knüllte die Zeitung zusammen. Da kam ihr etwas in den Sinn. Sie wankte in den kleinen Raum neben der Küche. In der Ecke stand der vergammelte Schreibtisch. Lily riss die unterste linke Schublade heraus.
Alles war in Ordnung. Da lag die alte Beretta Cheetah ihres Vaters. Zärtlich berührte Lily die Pistole, als ginge eine besondere Kraft von ihr aus.
Noch sechsunddreißig Stunden waren zu überbrücken, bis Doktor Lily Horn in ihre frühere Rolle als Wiener Staatsanwältin schlüpfen würde. Bis dahin wollte sie Albine treffen, Musik hören und Grünen Veltliner trinken. Und an nichts mehr denken, sondern die Augen schließen, den Moment genießen und das Rauschen der Blätter im sanften Wind hören.
Hinter einem Baum nahe der Votivkirche trat ein dunkel gekleideter Mann eine Zigarette aus und machte sich auf den Weg. Gemächlich, als befände er sich auf einem nächtlichen Spaziergang, begann er in Richtung Universitätsstraße zu schlendern. Dabei kramte er das Handy aus der Gesäßtasche. Das Fenster im dritten Stock hatte er lange genug beobachtet, um seiner Sache gewiss zu sein.
Die Zielperson war eingetroffen.
Sonntag, 13. Juni
2
Niemand liebte ihn. Ob ihn das störte, wusste keiner zu sagen, und er
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