Wo Dein Herz Zu Hause Ist
1 Die Hochzeit: Zweiter Versuch
Der erste Mai 2006 war Harris dreißigster Geburtstag, und zugleich sollte er ihr Hochzeitstag werden.
Sie hatte ziemlich ruhig geschlafen, und als sie aufwachte, ging ihr die Melodie von «Bring mich pünktlich zum Altar» aus My Fair Lady durch den Kopf.
Ich heirate in ein paar Stunden. Oje, ich muss bestimmt heulen. Hoffentlich kann ich mich beherrschen.
Aber es sah nicht danach aus, oder? Schließlich hatte sie kaum die Augen aufgeschlagen und bekam schon einen Nervositätsanfall, verdrückte ein oder zwei Tränen, putzte sich die Nase und schlug sich den Schädel am Kopfende ihres Mahagonibettes an.
Ach, alles Mist!
– Das galt nur dem Bett, nicht der bevorstehenden Hochzeit. Harri liebte ihren Verlobten. Sie war einfach nur unheimlich nervös. Und wenn sie nervös war, dann kam sie durcheinander, oder vielleicht war es auch umgekehrt. Aber ganz gleich, was zuerst kam, die Nervosität oder das Durcheinandersein, gewöhnlich endete es in irgendeiner Katastrophe.
Jetzt mach dich nicht verrückt, Harri. Alles wird perfekt laufen. Du wirst diesen Tag nicht vermasseln. Schlaf noch ein bisschen
. Sie gehorchte ihrer inneren Stimme und schaffte es, trotz leichter Kopfschmerzen wieder ins Land der Träume hinüberzugleiten, ohne dass etwas Schlimmes passiert war.
«Dein großer Tag», sagte ihr Vater später augenzwinkernd, als sie ihn auf dem Flur traf.
«Ja, der große Tag, Dad», sagte sie verlegen und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
«Lass das Auge drin, Schatz», ermahnte er sie.
«Ich versuch’s», sagte sie und küsste ihn auf die Wange.
Als sie kurz darauf aus der Dusche kam, erwartete sie ihre Mutter in ihrem Schlafzimmer. Sie hatte ein Tablett mit einem kompletten irischen Frühstück samt Toast, Tee, Kaffee, mehreren Croissants und Käse hereingeschleppt.
«Guten Morgen, mein Liebling», zwitscherte sie und stellte das Tablett auf den Tisch am Fenster, von dem aus man auf eine schön geflieste Terrasse und eine alte Eiche hinuntersah.
«Morgen, Mum», sagte Harri lächelnd und ließ das Handtuch sinken, das sie sich gegen das rechte Auge gedrückt hatte.
«Dein Auge ist ja ganz rot. Wie hast du denn das fertiggebracht?»
«Wollte mir den Schlaf aus den Augen reiben.»
«Ah», sagte ihre Mutter. «Also hast du geschlafen.» Sie nickte beifällig. «Du bist ein gutes Mädchen. Und das mit dem Auge ist kein Problem. Mona kaschiert das. Mona könnte schließlich auch einen schwarzblauen Knutschfleck am Hals kaschieren, als sei nie einer dagewesen. Gut, dass an anderen Stellen die Kleidung drüber ist.»
«Oh, Mum!»
Harris Mutter lachte. Normalerweise hatte Gloria nichts für Zweideutigkeiten und unanständige Ausdrücke übrig, und wenn sie einmal so etwas sagte, dann nur um der Komik willen. Auch Harri musste lachen. Es gefiel ihr, wenn ihre Mutter sich einen Spruch erlaubte, den sie bei jemand anderem anstößig gefunden hätte. Harri setztesich an den Tisch und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien von einem wolkenlosen blauen Himmel herunter. «Tolles Wetter», sagte sie und zog den bequemen Frotteebademantel enger um sich. Sie hatte ihn sechs Jahre zuvor von ihrer Mutter bekommen, als sie von zu Hause ausgezogen war. Allerdings war sie nur zwanzig Minuten die Straße hinunter auf den Campus der UCD gezogen, der Universität von Dublin. «Kaufe nur gute Sachen, Liebling», hatte Gloria gesagt. «Alles andere heißt, am falschen Ende sparen.»
Gloria achtete immer auf Qualität. Sie hatte einen erlesenen Geschmack und wollte immer nur das Beste haben. Sie war als einziges Kind eines vermögenden Landbesitzers aufgewachsen. Früher einmal hatte ihren Eltern ein ganzes Stadtviertel im Süden Dublins gehört. Als Harris Großvater mit Ende vierzig gestorben war, hatten seine Frau und seine Tochter das Haus geerbt. Nana, wie die Großmutter genannt worden war, hatte an Epilepsie gelitten und deshalb war Gloria nie ausgezogen. Sie hatte Harris Vater kennengelernt, als in das Haus eingebrochen wurde und er den Fall bearbeitete. Es war Liebe auf den ersten Blick, und sie waren innerhalb eines Jahres verheiratet gewesen. Harris Vater Duncan stammte aus einem der ärmeren Viertel im Norden Dublins, und es war ihm nicht leicht gefallen, sich an das Leben im Wohlstand zu gewöhnen. Gloria hatte einmal gesagt, er sei ihr damals vorgekommen wie eine Teichente in der Wüste. Allerdings brachte seine Arbeit ihn noch ausreichend in Kontakt mit den düsteren Seiten des
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