Maedchenauge
selbst verlor darüber kein Wort. Seine Mimik und sein Auftreten verbargen, inwieweit es ihm an Zuneigung mangelte und er dieser überhaupt bedurfte.
Er trat aus dem Halbdunkel seines Hauses hinaus ins Freie. Das glitzernde Wasser reflektierte die Sonnenstrahlen und blendete ihn leicht, seine Augen verengten sich.
Nicht irgendein Sonntag war das, sondern der gefürchtete zweite nach dem letzten Mord. Der Täter hatte bisher stets an Samstagen zugeschlagen, exakt vierzehn Tage waren zwischen dem ersten und dem zweiten ermordeten Mädchen verstrichen. Wenn er bei seinem bisherigen Muster geblieben war, musste er in der gestrigen Nacht getötet haben. An beiden Sonntagen war Belonoz morgens durch einen Anruf alarmiert worden.
Er war um die fünfzig und vermittelte kein Bedürfnis nach Nähe. Er kam und ging allein, und wenn er irgendwo erschien, umgab ihn eine unsichtbare, undurchdringliche Mauer, die sofort für Distanz sorgte. Ob jemand sein Privatleben begleitete, war nicht bekannt. Das Auftreten des Major Belonoz war von einer Selbstgewissheit, die manche Fragen gar nicht erst aufkommen ließ. Deshalb fehlten auch die entsprechenden Antworten.
Die Anzüge, die er im Dienst trug, waren so schwarz wie sein Haar, das erst am Hinterkopf wirklich füllig wurde und auf die Krägen seiner weißen, weit offenen Hemden herabfiel. Mit hellblauen, manchmal kalt anmutenden Augen taxierte Major Belonoz die Menschen und verfuhr mit ihnen generell wie ein Verhörspezialist mit schwierigen Verdächtigen. Er konnte überraschend Vertrauen erzeugen und sein Gegenüber zu völliger Offenheit verleiten. Hatte er erreicht, was er benötigte, fiel die Maske falscher Intimität. Ob Belonoz sich immer schon so verhalten hatte? Einige Kollegen mutmaßten, er sei entweder durch den Beruf so geworden oder durch verbitternde Schicksalsschläge. Dass Belonoz Chef der Wiener Mordkommission war, passte zu beiden Möglichkeiten.
Dass manche ihn hinter seinem Rücken als sarkastisch, arrogant oder zynisch schmähten, war ihm zu Ohren gekommen. Sein Verhalten beeinflusste das nicht. Anderer Leute Getuschel interessierte Belonoz keine Sekunde lang.
»Man darf sich nie abhängig machen von dem, was andere denken«, hatte Belonoz seinem Stellvertreter Edi Steffek am Beginn ihrer Zusammenarbeit gesagt. »Unsere Daseinsberechtigung basiert nicht darauf, dass uns die Leute mögen. Also verlieren wir sie auch nicht, wenn uns einige verachten oder hassen.«
Damals, vor rund zwei Jahren, hatte ihn der brave Steffek dermaßen skeptisch angeblickt, dass Belonoz hinzugefügt hatte: »Wer nichts zu verlieren hat, ist nicht schwach, sondern stark. So stark, dass sich die anderen fürchten. Ihre Angst kann dein erster kleiner Sieg in einer großen Schlacht sein. Vergiss das nie.«
Belonoz strahlte eine Unabhängigkeit aus, die all jene Ministerialbeamten und Politiker verwirrte, die den Major gerne an die Kandare genommen hätten. Verstört waren sie, weil sie an ihm etwas bemerkten, das sie von sich selbst nicht oder nicht mehr kannten. Und einsahen, dass einer wie Belonoz auch nicht käuflich war. Beinahe verzweifelt zermarterten sich einige von ihnen regelmäßig die Köpfe, um endlich eine Erklärung dafür zu finden, woher Belonoz seine innere Stärke bezog. War er doch, im Unterschied zu ihnen, nicht durch parteipolitische Manöver zu seinem Posten gelangt und konnte nicht auf die Unterstützung einer politischen Gruppierung bauen. Dass seine Stärke, die ihnen geradezu eine Provokation schien, eben aus seiner Freiheit rührte, begriffen sie nicht. Sie selbst waren längst in ein Netz aus Abhängigkeiten und Freundschaftsdiensten verstrickt und fristeten ihr Dasein als demütig gebrochene Charaktere.
Der private Major Belonoz war unsichtbar. Er verschwand in dem kleinen, abgewohnten Haus an der Alten Donau. Ursprünglich, zu ganz anderen Zeiten, war dies ein reiner Ferienwohnsitz gewesen. Bis sich die Dinge geändert hatten. Eine geliebte Person war gegangen und Belonoz fortan ganzjährig hier anzutreffen gewesen. In den warmen Monaten genoss er die idyllische Lage am Wasser des ehemaligen Donauarms. Dafür war die Tristesse groß, sobald die Tage kalt und grau wurden und das Wasser zufror. Wenn er es nicht länger mit sich und der Einsamkeit aushielt, schwang sich Belonoz in seinen alten MG und glitt zu den Klängen von Patti Smith, den Kinks oder Velvet Underground durch das nächtliche Wien, bis der Morgen graute. Aber davon wusste niemand.
An
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