Männerstation
Morgens, pünktlich um sechs, bekam er wieder seinen Schluckauf. Er saß im Bett, kerzengerade, das Kreuz durchgedrückt, die Hände flach auf der Brust und machte laut »Hicks«. Es war wie ein Pistolenschuß, der die Köpfe aus den Kissen der anderen Betten auffahren ließ.
»Sechs Uhr – der Hahn kräht!« sagte Hieronymus Staffner und sah Paul Seußer an. »Auf die Minute pünktlich!«
»Es ist zum Kotzen!« Ernst Brohl kratzte sich die behaarte Brust. »Dem hätten se das Zwerchfell gleich mit rausschneiden können.«
Paul Seußer saß noch immer kerzengerade im Bett. Er machte ein unglückliches und wie um Verzeihung bittendes Gesicht, senkte den Kopf und sagte wieder »Hicks«.
»Na also …« Heinrich Dormagen drehte sich auf die andere Seite und gähnte. Er hatte einen merkwürdigen Geschmack im Mund, seit gestern, als sie ihm eine Magenausheberung gemacht hatten, um zu sehen, warum er immer so dumpfe Magenschmerzen hatte. Er trank einen Schluck abgestandenen Apfelsaft, den man auf der Station in kleinen Gläsern verteilte und den Eingeweihte wegen des säuerlichen Nachgeschmackes ›Negerschweiß‹ nannten. »Nun kann's losgehen.«
Zimmer 5 der Männerstation III des Städtischen Krankenhauses war erwacht. Und es war Sonntag. Ein strahlender Sommertag. Die Vögel zwitscherten vor den Fenstern, und auf der Straße vor den Krankenzimmern war es merkwürdig still. Von fern her hörte man einen auf und ab klingenden Gesang. Er kam aus der Krankenhauskapelle im Südflügel des Gebäudekomplexes. Die Schwestern hielten ihre sonntägliche Morgenandacht.
»Ab zwei Uhr geht's hier rund.« Ernst Brohl setzte sich auf. »Dann kommen die Frauen.«
»Der Sonntag ist immer ein schwerer Tag!« Staffner lachte. Er beugte sich vor und starrte auf die Bettdecke. Die linke Seite, wo sich sonst das Bein durchdrücken mußte, war flach von der Hüfte an. »Jetzt juckt die kleine Zehe wieder, Donnerwetter!« sagte er und bezwang sich, nicht ins Leere hinein zu kratzen. »Das ist doch zu blöd, daß etwas juckt, was nicht mehr da ist!« Er sah sich um. In den fünf belegten Betten des Achtbettzimmers Nr. 5 saßen sie jetzt und gähnten oder reckten sich. Nur Karl Frerich lag noch halb. Er konnte sich nicht recken. Seine Brust war mit dicken Verbänden umwickelt. »Und wißt ihr, was der Beißelmann gesagt hat?« quengelte Staffner weiter. »Besser ein Juck da, wo nichts mehr ist, als ein Juck dort, wo's aufregt.«
»Beißelmann ist ein altes Kommißschwein!« Ernst Brohl, das Bronchialkarzinom, das verheimlicht und als Asthma bezeichnet wurde, mußte es wissen. Er war Berufssoldat gewesen und kannte sich in Revieren und Lazaretten wie kein anderer aus. Die Begegnung zwischen ihm und dem Krankenpfleger der Station III, Paul Beißelmann, gehörte bereits zu den Legenden des Krankenhauses. Sie hatten sich kurz angesehen, so wie sich japanische Ringer in die Augen blicken, ehe sie aufeinander zustürzen, und irgendwie mußten sie sich im Wesen erkannt haben, denn Beißelmann sagte ernst: »Eins im voraus: Wenn Sie anfangen, blöd zu werden, haue ich Ihnen jeden Abend ein Klistier in den Hintern!«
Und Ernst Brohl hatte aufgeseufzt und sich still ins Bett gelegt. »Wie im Revier des 2. Bataillons«, sagte er nur noch. »Man kommt einfach nicht davon los.«
»Es wäre gut, wenn ihr die Schnauzen halten könntet und noch 'ne Stunde schlaft.« Heinrich Dormagen nahm wieder einen Schluck ›Negerschweiß‹. Der fade Geschmack im Gaumen ging nicht weg. Es war, als habe er Seifenpulver gegessen. Und seit dem Magenauspumpen war das so. Bei der nächsten Visite wollte er den Oberarzt danach fragen, wieso plötzlich alles so merkwürdig schmeckte. Er wälzte sich auf die andere Seite und schloß die Augen. »Heute kommt doch erst um sieben unser Mäuschen …«
»Hicks!« machte Paul Seußer und hob entschuldigend beide Hände. »Kinder, ich mache das doch nicht extra! Ich kann doch nichts dafür. Seit die mir den Magen kleiner gemacht haben, kommt das immer, wenn ich aufwache. Ihr wißt es doch …« Fast kläglich klang das. Karl Frerich nickte und zog die Decke bis zum Kinn. Er sprach wenig, und wenn er etwas sagte, war es voller Traurigkeit. Vor zwei Wochen hatte er sich erschießen wollen und den Lauf eines Revolvers auf die Stelle gesetzt, wo er glaubte, dort sei sein Herz. Er hatte sogar den Herzschlag gefühlt und glaubte, nach dieser sicheren Bestimmung des Standortes nicht daneben schießen zu können. Als er im
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