Männerstation
würden.«
Rufe auf dem Flur unterbrachen ihn. Er ging zur Tür und öffnete sie. Eine Stimme – es war die OP-Schwester Innozenzia – rief: »Wo ist Doktor Bernfeld? In seinem Zimmer ist er nicht. Ein Unfall ist eingeliefert.«
Beißelmann schloß die Tür. »Ein Unfall. Man sucht Sie!«
Bernfeld zerdrückte die Zigarette in der Erde eines der Blumentöpfe, weil er nirgendwo einen Aschenbecher sah. Beißelmann beobachtete es mit zusammengezogenen Brauen, aber er sagte nichts.
»Er kommt auf Nummer fünf, dort haben wir noch zwei Betten frei.«
»Drei, Herr Doktor.«
Bernfeld blieb an der Tür stehen, die Klinke schon heruntergedrückt. »Wir müssen einmal länger miteinander sprechen, Beißelmann«, sagte er.
»Warum? Ich will nicht.«
»Es ist mir, als flüchteten Sie vor den Menschen.«
Beißelmann wandte sich um und zupfte weiter an der korrekt gefalteten Decke. Dr. Bernfeld wartete einen Augenblick, dann zuckte er die Schultern und trat hinaus auf den Gang. Er prallte auf Schwester Innozenzia, die lauthals über die mangelnde Moral der jungen Ärzte schimpfte. Als sie Dr. Bernfeld sah, hob sie beide Hände.
»Seit zehn Minuten schelle ich ins Bereitschaftszimmer!« rief sie empört. »Ein Unfall liegt im OP II und ich …«
»›Ich bin schon da!‹, sagte der Igel zum Hasen!« lachte Dr. Bernfeld. »Los, los, Schwesterchen, nicht lamentieren, sondern handeln! Was ist es denn?«
Während sie zum Aufzug gingen, berichtete Schwester Innozenzia. Es war ein Betriebsunfall. Bruch von Elle und Speiche des linken Armes, Fleischwunden und starker Blutverlust. »Er ist mit dem Arm in einen automatischen Greifer gekommen. Hat Glück gehabt, daß der Arm noch dran ist. Wenn ein Kollege nicht sofort durch Kurzschluß die Maschine abgestellt hätte …«
Der Aufzug schnurrte nach unten zur Aufnahme und zum OP II, dem Operationssaal für Unfälle und nicht septische Operationen.
Paul Beißelmann schlurfte lautlos auf seinen dicken Gummisohlen zu Zimmer 5 der Station III. Ernst Brohl war gerade dabei, über seine Erlebnisse bei einem Urlaub in Frankreich zu berichten. Da hatte er eine Babette kennengelernt.
»Kinder, die hatte Holz vor der Tür!« sagte er genußvoll. »Und Feuer hatte die! Ich sage immer: Die französischen Weiber. Ich habe in vier Wochen zehn Pfund abgenommen …«
»Ein Neuer kommt!« sagte Beißelmann und richtete das Bett in der Ecke her.
»Auch das noch!« Hieronymus Staffner schlürfte den Rest seines Kaffees. »Was hat er denn?«
»Betriebsunfall.«
»Am Sonntag?« Brohl sah sich um. »Das muß ja ein blöder Hund sein, der am Sonntag arbeitet!«
»Abwarten.« Heinrich Dormagen, der Fabrikant, der aus Sparsamkeitsgründen in der AOK-Klasse lag, hatte den Schock des Streuselkuchens überwunden. Das riesige Völlegefühl war verschwunden. »Wenn die Auftragsdecke es verlangt, wird auch bei mir am Sonntag mit Viertelbelegschaft gearbeitet, natürlich freiwillig.«
»Also doch ein blöder Hund!« sagte Brohl aus voller Brust. »Wer arbeitet denn freiwillig für die Kapitalisten!«
In seinem Bett hockte Paul Seußer und kämpfte wieder mit dem Schluckauf. Der Streuselkuchen schien eine rätselhafte Wirkung auf das Zwerchfell zu haben. Er begriff den Zusammenhang nicht, denn er wußte nicht, daß sowohl Oberarzt Dozent Dr. Pflüger wie auch Prof. Morus öfter diesen Fall nachdenklich durchsprachen und es vermieden, den Begriff des ›Kunstfehlers‹ laut werden zu lassen. Man suchte nach einem Ausweg, obwohl man ziemlich sicher wußte, daß Paul Seußer seinen Schluckauf bis zum Lebensende behalten würde.
Eine halbe Stunde später kam der ›Unfall‹ ins Zimmer. Schwester Inge begleitete ihn. Obgleich der Mann ein breites, lächelndes Gesicht hatte, hatte er sich bei Inge eingehakt und ließ sich stützen, als könne er vor Schwäche nicht mehr laufen. Im Zimmer nickte er nach allen Seiten und sagte: »Mein Name ist Lukas Ambrosius.« Er sah wie eine Reklamefigur aus, schlank, breitschultrig, mit gewellten braunen Haaren und dunklen, glänzenden Augen. Nur der geschiente und dick verbundene linke Arm brachte eine unpassende Note in diese nach Eleganz lechzende Erscheinung.
»Der Sonntagsarbeiter!« sagte Brohl abwertend. Ambrosius sah ihn freundlich an.
»Der eine arbeitet sonntags und verdient sich seine Brötchen, der andere nachts auf der Straße.« Er wandte sich zu Schwester Inge und machte eine kleine Verbeugung. »Ich bitte um Verzeihung wegen dieser unschicklichen Rede.
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