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Maerchen Fuer Kinder

Titel: Maerchen Fuer Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Christian Andersen
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gegenüberliegenden Altan erhob sich auch, der Fremde kehrte sich um, und der Schatten kehrte sich auch um, ja, wenn jemand genau darauf geachtet hätte, so würde er deutlich haben sehen können, daß der Schatten in die halb offene Altanthür des gegenüberliegenden Hauses hineinging, gerade wie der Fremde in sein Zimmer hineintrat und den langen Vorhang hinter sich fallen ließ.
    Am folgenden Morgen ging der gelehrte Mann aus, um Kaffee zu trinken und Zeitungen zu lesen. »Was ist das?« sagte er, als er in den Sonnenschein kam, »ich habe ja keinen Schatten! Also ist er wirklich gestern Abend fortgegangen und nicht zurückgekehrt; das ist doch recht unangenehm!«
    Und es ärgerte ihn, doch nicht so sehr, daß der Schatten fort war, sondern weil er wußte, daß es eine Geschichte giebt von einem Manne ohne Schatten, diese kannten ja alle Leute daheim in den kalten Ländern, und käme nun der gelehrte Mann dorthin und erzählte die seine, so würde man sagen, daß er nur nachzuahmen suche und das brauchte er nicht. Deshalb wollte er gar nicht davon sprechen, und das war vernünftig gedacht.
    Am Abend ging er wieder auf seinen Altan hinaus, das Licht hatte er ganz richtig hinter sich gestellt, denn er wußte, daß der Schatten immer seinen Herrn zum Schirm haben will, aber er konnte ihn nicht hervorlocken. Er machte sich klein, er machte sich groß, aber es kam kein Schatten wieder. Er sagte: »Hm! hm!« aber es half nichts.
    Ärgerlich war es, aber in den warmen Ländern wächst alles geschwind, und nach Verlauf von acht Tagen bemerkte er zu seinem großen Vergnügen, daß ihm ein neuer Schatten von den Beinen aus wuchs, sobald er in den Sonnenschein kam; die Wurzel mußte sitzen geblieben sein. Nach drei Wochen hatte er einen ganz leidlichen Schatten, der, als er sich heim nach den nördlichen Ländern begab, auf der Reise mehr und mehr wuchs, sodaß er zuletzt so lang und so groß war, daß es an der Hälfte genug gewesen wäre.
    So kam der gelehrte Mann nach Hause, und er schrieb Bücher über das, was wahr ist in der Welt, und über das, was gut und was schön ist, und so verstrichen Tage und Jahre; es vergingen viele Jahre.
    Da sitzt er eines Abends in seinem Zimmer und da klopft es ganz sacht an die Thür.
    »Herein!« sagt er, aber es kommt niemand, da öffnet er die Thür, und da stand ein außerordentlich magerer Mensch vor ihm, sodaß es ihm ganz sonderbar wurde. Übrigens war der Mensch sehr fein gekleidet, es mußte ein vornehmer Mann sein.
    »Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?« fragte der Gelehrte.
    »Ja, das dachte ich wohl,« sagte der feine Mann, »daß Sie mich nicht erkennen würden! Ich bin so viel Körper geworden, ich habe ordentlich Fleisch und Kleider bekommen! Sie haben wohl nie daran gedacht, mich in solchem Wohlstand zu erblicken. Kennen Sie ihren alten Schatten nicht? Ja, Sie haben sicher nicht geglaubt, daß ich je wiederkommen würde. Mir ist es außerordentlich wohl ergangen, seitdem ich das letzte Mal bei Ihnen war, ich bin in jeder Hinsicht sehr vermögend geworden. Wenn ich mich vom Dienst freikaufen will, so kann ich es!« Dabei klapperte er mit einem ganzen Bund kostbarer Petschafte, die an der Uhr hingen, und er steckte seine Hand in die dicke, goldene Kette, die er um den Hals trug; wie blitzten alle Finger von Diamantringen! Und das war alles echt.
    »Nein, ich kann mich gar nicht erholen!« sagte der gelehrte Mann, »was bedeutet dieses alles?«
    »Ja, es ist nichts Gewöhnliches!« sagte der Schatten, »aber Sie gehören ja selbst nicht zu den Gewöhnlichen, und ich, das wissen Sie wohl, bin von Kindesbeinen an in Ihre Fußtapfen getreten. Sobald Sie fanden, daß ich reif war, um allein in die Welt hinauszugehen, ging ich meinen eigenen Weg. Ich befinde mich in der besten Lage, aber es befiel mich eine Art von Sehnsucht, Sie einmal zu sehen, bevor Sie sterben, Sie müssen ja sterben! Auch wollte ich diese Länder gern wiedersehen, denn man liebt das Vaterland doch immer! – Ich weiß, Sie haben einen andern Schatten wieder erhalten, habe ich demselben oder Ihnen etwas zu bezahlen? Haben Sie nur die Güte, es zu sagen.«
    »Nein, bist Du es wirklich?« sagte der gelehrte Mann, »das ist doch höchst merkwürdig! Nie hätte ich geglaubt, daß ein alter Schatten als Mensch wiederkommen könne!«
    »Sagen Sie mir, was ich zu bezahlen habe!« sagte der Schatten, »denn ich will nicht gern jemandes Schuldner sein.«
    »Wie kannst Du so sprechen!« sagte der gelehrte Mann,

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