Der Ungnädige
Das Licht ist nicht gut. Am Anfang ist nicht viel zu erkennen.
Das Monitorbild flackert und verschwimmt, während die Kamera versucht, in dem dunklen Innenraum etwas einzufangen. Es ist eine Handkamera– das Video ruckelt und wackelt, erfasst Details, die auf einen beengten Raum hindeuten– eine niedrige Decke, eine schmutzige Plane auf dem Boden. Nach 19 Sekunden kann der Betrachter anhand der gerundeten Form eines Radkastens darauf schließen, dass die Szene in einem Lieferwagen, und zwar einem nicht allzu großen, gefilmt wurde.
Als die Kamera sich schließlich auf das richtet, was auf der Plane liegt, hantiert die Person hinter der Kamera kurz herum und schaltet ein Licht ein. Danach ist es so hell, dass die Schatten nur noch den Bildrand verdunkeln. Das hier ist wichtig. Das muss man sich genauer ansehen.
Das ist der Grund für diesen Film.
Die Kamera beginnt bei ihren Füßen, die dreckverschmiert in hochhackigen Sandaletten stecken. Sie schwenkt weiter nach oben, verweilt auf den Oberschenkeln, die unter einem weißen Kleid zum Vorschein kommen, das denkbar kurz ist. Der Plisseerock ist fast bis zu den Hüften hochgerutscht. Sie liegt auf der Seite, ihre Hände sind entspannt, ihr Gesicht wird von den lockigen, blonden Haaren verdeckt. In die Strähnen sind kleine Blumen eingeflochten. Auf der Haut glänzt hier und da etwas Glitzerpuder auf, die Gliedmaßen schimmern im Licht. Neben ihrem Gesicht liegt eine mit Strass besetzte Maske achtlos abgestreift auf der Plane. Die langen rosa Bänder, die sie zuvor gehalten hatten, kringeln sich in wirrem Durcheinander. Es fällt nicht gleich auf, dass der Schatten auf einem der Bänder nicht vom Licht herrührt, sondern von einer dunkelroten Flüssigkeit, die den Stoff durchtränkt hat.
Die Falten ihres Kleides sind mit winzigen dunkelroten Flecken übersät– Tröpfchen, geformt wie kleine Kometen.
Und auf ihrer vollen Unterlippe, kaum sichtbar zwischen den Haarsträhnen, schwillt ein dicker, tiefroter Tropfen, der hinunterrollt, gerade als sich die Kamera darauf richtet, und in der kleinen Lache landet, die sich unter ihrem Kopf gebildet hat.
Auf die Details kommt es an, aber es ist nicht genug zu erkennen, nicht, solange die Haare ihr Gesicht verdecken. Die Kamera ruckt zur Seite, und für einen Moment kommt eine Hand ins Bild, greift nach einem Bündel ihrer Locken und wirft es zur Seite.
Jetzt kann man alles erkennen.
Jetzt erkennt man den Bluterguss, der die eine Wange dunkel färbt. Jetzt erkennt man die bröckelige Mascara an den Wimpern, die Farbreste in den Lippenfältchen. Jetzt erkennt man die Rundung ihrer Brüste. Jetzt sieht man, dass sie hübsch ist, jedoch nicht perfekt. Ihre Nase ist zu kurz und zu breit, ihre Lippen sind zu voll, ihr Kinn ein bisschen zu eckig. Jetzt sieht man auch, dass sie sehr jung ist.
Ein Zittern, zu schwach, um es eine Bewegung zu nennen– und die Kamera weicht ein Stück zurück, bleibt aber auf ihr Gesicht gerichtet. Ein Stirnrunzeln schiebt ihre Augenbrauen aufeinander zu, zieht ihre Mundwinkel nach unten– für einen Moment gleicht ihr Gesicht dem eines schmollenden Engelchens auf der Skizze eines alten Meisters. Und dann öffnet sich ein Auge, ziellos zunächst, blassblau.
Die Kamera wackelt, bewegt sich auf und ab, völlig unkoordiniert. Es ist ein Lachen. Die Person hinter der Kamera lacht.
Plötzlich kommt Ton zu der Aufnahme hinzu, was dem Ganzen eine zusätzliche Dimension verleiht. Ein Rascheln, als die junge Frau sich aufsetzt. Mit einer Hand schirmt sie das Licht von ihren Augen ab. Atmen hinter der Kamera, flach und schnell– voller Erregung und Erwartung.
Die blauen Augen sind jetzt zusammengekniffen, der Blick ist fokussiert; sie ist wach. Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, schmeckt das Blut, erfasst das Ausmaß ihrer Verletzungen.
Ein Moment des Schweigens.
Dann, gänzlich unerwartet, lächelt sie– ein dreieckiges, humorloses Lächeln zwar, aber unverkennbar ein Lächeln. Der Ausdruck ihres Gesichts ist katzenhaft, gefährlich. Sie wirft das Haar zurück, setzt sich auf die Fersen und streicht ihren kurzen Rock glatt. Und als sie spricht, ist ihre Stimme völlig ausdruckslos. Es ist keinerlei Anzeichen von Angst darin zu entdecken, was beinahe so bemerkenswert ist wie das, was sie sagt, bevor der Ton abbricht und der Bildschirm wieder schwarz wird.
» Du sitzt jaso dermaßen im Dreck. «
Teil 1
» Es ist merkwürdig, wie gänzlich unbeachtet man leben und sterben kann in
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