Maerchen Fuer Kinder
Frucht Adam und Eva gegessen hatten. Von jedem Blatte tröpfelte ein glänzender, roter Tautropfen; es war, als ob der Baum blutige Thränen weinte.
»Laß uns nun in das Bot steigen!« sagte die Fee; »da wollen wir Erfrischungen auf dem schwellenden Wasser genießen! Das Bot schaukelt, kommt aber nicht von der Stelle, doch alle Länder der Erde gleiten an unseren Augen vorbei.« Es war eigentümlich zu sehen, wie sich die ganze Küste bewegte. Da kamen die hohen, schneebedeckten Alpen mit Wolken und schwarzen Tannen, das Horn erklang wehmütig und der Hirt jodelte hübsch im Thale. Nun bogen die Bananenbäume ihre langen, hängenden Zweige über das Bot nieder, kohlschwarze Schwäne schwammen auf dem Wasser und die seltsamsten Tiere und Blumen zeigten sich am Ufer; das war Australien, der fünfte Erdteil, der mit einer Aussicht auf die blauen Berge vorbeiglitt. Man hörte den Gesang der Priester und sah den Tanz der Wilden zum Schall der Trommeln und der knöchernen Trompeten. Ägyptens Pyramiden, die bis in die Wolken ragten, umgestürzte Säulen und Sphinxe, halb im Sande begraben, segelten vorbei. Die Nordlichter flammten über ausgebrannte Vulkane des Nordens; das war ein Feuerwerk, was niemand nachmachen konnte. Der Prinz war glücklich, ja er sah wohl hundertmal mehr, als wir hier erzählen.
»Kann ich immer hier bleiben?« fragte er.
»Das kommt auf Dich selbst an!« erwiderte die Fee. »Wenn Du nicht, wie Adam, Dich gelüsten läßt, das Verbotene zu thun, so kannst Du immer hier bleiben!«
»Ich werde die Äpfel auf dem Erkenntnisbaume nicht anrühren!« sagte der Prinz. »Hier sind ja Tausende von Früchten, ebenso schön wie die!«
»Prüfe Dich selbst, und bist Du nicht stark genug, so gehe mit dem Ostwinde, der Dich herbrachte; er fliegt nun zurück und läßt sich hier in hundert Jahren nicht wieder blicken. Die Zeit wird an diesem Orte für Dich vergehen, als wären es nur hundert Stunden, aber es ist eine lange Zeit für die Versuchung und Sünde. Jeden Abend, wenn ich von Dir gehe, muß ich Dir zurufen: ›Komm mit!‹ Ich muß Dir mit der Hand winken, aber bleibe zurück. Gehe nicht mit, denn da wird mit jedem Schritt Deine Sehnsucht größer werden; Du kommst in den Saal, wo der Baum der Erkenntnis wächst; ich schlafe unter seinen duftenden, hängenden Zweigen, Du wirst Dich über mich beugen und ich muß lächeln; drückst Du aber einen Kuß auf meinen Mund, so sinkt das Paradies tief in die Erde und es ist für Dich verloren. Der Wüste scharfer Wind wird Dich umsausen, der kalte Regen von Deinem Haare träufeln. Kummer und Drangsal wird Dein Erbteil.«
»Ich bleibe hier!« sagte der Prinz. Und der Ostwind küßte ihn auf die Stirn und sagte: »Sei stark, dann treffen wir uns hier nach hundert Jahren wieder! Lebe wohl, lebe wohl!«
Und der Ostwind breitete seine großen Schwingen aus; sie glänzten wie das Wetterleuchten in der Erntezeit oder wie das Nordlicht im kalten Winter.
»Lebe wohl, lebe wohl!« ertönte es von Blumen und Bäumen. Störche und Pelikane flogen wie flatternde Bänder in Reihen und geleiteten ihn bis zur Grenze des Gartens.
»Nun beginnen wir unsere Tänze!« sagte die Fee. »Zum Schlusse, wo ich mit Dir tanze, wirst Du, indem die Sonne sinkt, sehen, daß ich Dir winke, Du wirst mich Dir zurufen hören: ›Komm mit!‹ Aber thue es nicht! Hundert Jahre lang muß ich es jeden Abend wiederholen; jedesmal, wenn die Zeit vorbei ist, gewinnst Du mehr Kraft, zuletzt denkst Du gar nicht mehr daran. Heute Abend ist es zum ersten Mal. Nun habe ich Dich gewarnt!«
Die Fee führte ihn in einen großen Saal von weißen, durchsichtigen Lilien; die gelben Staubfäden in jeder bildeten eine kleine Goldharfe, die mit Saitenlaut und Flötenton erklang. Die schönsten Mädchen, schwebend und schlank, in wogenden Flor gekleidet, sodaß man die schönen Glieder sah, schwebten im Tanze und sangen, wie herrlich es sei, zu leben, und daß sie nie sterben werden und daß der Garten des Paradieses ewig blühen werde.
Die Sonne ging unter, der ganze Himmel wurde Ein Gold, welches den Lilien den Schein der herrlichsten Rosen gab, und der Prinz trank von dem schäumenden Wein, welchen die Mädchen ihm reichten, und er fühlte eine Glückseligkeit wie nie zuvor; er sah, wie der Hintergrund des Saales sich öffnete und der Baum der Erkenntnis stand in einem Glanze, der seine Augen blendete; der Gesang von daher war sanft und lieblich, wie seiner Mutter Stimme, und es war, als ob sie sänge:
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