Verloren
1
Ich schwebe. Und obwohl ich weiß, dass ich diesen Zustand dringend ändern muss, kann ich nicht. Noch nicht. Erst muss sich mein Herz wieder beruhigen, das beängstigend schnell schlägt. Aber ich dachte ja vor einer Sekunde noch, dass ich mir beim Sturz von der Treppe den Hals brechen werde.
Atmen wäre auch gut, tief durchatmen, weil mir nichts passiert ist. Geht nur gerade leider nicht. Ich scheine aus irgendeinem Grund vergessen zu haben, wie man seinen Brustkorb mit Luft füllt. Eigentlich kann ich nichts anderes tun, als den Mann anzustarren, der mit gerunzelter Stirn auf mich herunterblickt.
Das Licht der Abendsonne, die durch das Fenster hereinscheint, lässt seine dunkelblonden Haare golden schimmern, und das passt absolut perfekt zu seinen ungewöhnlichen Augen, die in einem warmen Bernstein-Ton leuchten. Und dieses Gesicht … wie gemeißelt, ehrlich. Hohe Wangenknochen, gerade Nase, geschwungene Lippen. Wie eine von diesen Männerstatuen aus Marmor, von denen es hier in Rom so viele gibt. Okay, seine Haare sind vielleicht ein bisschen zu lang, fallen ihm in die Stirn. Aber trotzdem … so wahnsinnig gut sieht doch in Wirklichkeit niemand aus. Was mich kurz befürchten lässt, dass ich vielleicht doch gefallen bin und längst im Koma liege.
»Tutto a posto?« , fragt der Mann mit tiefer, sehr realer Stimme und wendet leicht den Kopf, um an mir herunterzusehen – vermutlich um sich selbst davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist mit mir. Und als er das tut, bemerke ich eine Narbe seitlich an seinem Hals. Sie ist gezackt und hell und beginnt tief, kurz über dem Schlüsselbein. Sehen, wie weit sie sich über seine Brust zieht, kann ich nicht, weil sie im offenen Kragen seines weißen Hemdes verschwindet, aber die entsprechende Wunde ist keine Kleinigkeit gewesen. Irgendwas muss ihn da mal übel erwischt haben. Die Narbe entstellt ihn allerdings nicht. Sie macht ihn eigentlich nur – echter.
Er ist ja auch echt, Sophie, erinnere ich mich, und schlucke, als das Gefühl, das mir der Schock kurzfristig geraubt hat, mit einem Schlag in meinen Körper zurückkehrt. Plötzlich spüre ich deutlich die großen Hände des Mannes im Rücken, die mich halten, und merke zum ersten Mal, dass ich meine eigenen Hände aus Reflex in den Ärmel und das Revers seines beigefarbenen Anzugsakkos gekrallt habe.
Und erst jetzt, mit einigen Sekunden Verzögerung, wird mir wirklich klar, was passiert ist und wie leichtsinnig es von mir war, mich auf der Treppe auf Zehenspitzen zu stellen, ohne mich festzuhalten. Ich wollte mir das Bild genauer ansehen, das an der Wand hängt, doch als ich dann noch einen kleinen Schritt nach vorne gemacht habe, bin ich auf den Stoff meines langen Kleides getreten, umgeknickt und gefallen. Und jetzt liege ich in den Armen dieses Mannes, der hinter mir die Treppe raufgegangen ist und mich zum Glück aufgefangen hat, bevor irgendetwas Schlimmes passieren konnte. In den Armen dieses fremden Mannes, dem ich verstörend nah bin und der mir problemlos tief in mein Dekolletee blicken kann. Was mich endlich wieder zu Atem kommen lässt.
»Ja, alles in Ordnung«, murmele ich und versuche, mit brennenden Wangen zurück auf die Füße zu kommen. Er hilft mir dabei, doch als ich stehe, hält er mich weiter an den Oberarmen fest, so als würde er mir nicht zutrauen, dass ich das auch alleine kann. Eine korrekte Einschätzung, leider, denn ich fühle mich ganz schön zittrig. Neben uns gehen weitere Gäste die Treppe nach oben, wo der Empfang bestimmt schon in vollem Gange ist, und sehen mich und ihn neugierig an.
Na super, Sophie, denke ich, frustriert darüber, dass dieser wichtige Abend gleich mit so einem peinlichen Ausrutscher anfängt. Ich kann gar nicht sagen, was mich mehr aus der Bahn geworfen hat – der Sturz an sich oder die Tatsache, dass ich überhaupt gefallen bin. So was passiert mir sonst nie. Ich bin nicht tollpatschig und ich gehöre auch nicht zu diesen Frauen, die Männern gerne hilflos in die Arme sinken – ganz sicher nicht. Das lag nur an dem Kleid, dessen dünne Träger ich unglücklich wieder zurechtrücke, weil sie verrutscht sind.
Es ist eigentlich ein Traum – rot und lang und aus weich fallendem Chiffon. Deshalb konnte ich nicht widerstehen, als ich es heute Morgen in der Nähe der Via Nazionale in einer Boutique entdeckt habe. Zu Hause in London hätte ich so ein Modell wahrscheinlich nicht gekauft. Da trage ich zu solchen geschäftlichen Terminen eher
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