Maerchen Fuer Kinder
sagte die Mutter der Winde, und so setzten sie sich alle heran, um von dem gebratenen Hirsch zu speisen; der Prinz saß zur Seite des Ostwindes und deshalb wurden sie bald gute Freunde.
»Höre, sage mir einmal,« fing der Prinz an, »was ist das für eine Prinzessin, von der hier soviel die Rede ist, und wo liegt der Garten des Paradieses?«
»Hoho!« sagte der Ostwind, »willst Du dahin, ja, dann fliege morgen mit mir; aber das muß ich Dir sagen, da ist kein Mensch seit Adams und Evas Zeiten gewesen. Die kennst Du ja wohl aus der biblischen Geschichte?«
»Ja!« sagte der Prinz.
»Damals, als sie verjagt wurden, versank der Garten des Paradieses in die Erde, aber er behielt seinen warmen Sonnenschein, seine milde Luft und alle seine Herrlichkeit. Die Feenkönigin wohnt darin, da liegt die Insel der Glückseligkeit, wohin der Tod nie kommt, wo es herrlich ist! Setze Dich morgen auf meinen Rücken, dann werde ich Dich mitnehmen; ich denke, es wird sich wohl thun lassen! Aber nun mußt Du nicht mehr sprechen, denn ich will schlafen!«
Und dann schliefen sie allesamt.
In der frühen Morgenstunde erwachte der Prinz und war nicht wenig erstaunt, sich schon hoch über den Wolken zu finden. Er saß auf dem Rücken des Ostwindes, der ihn noch treulich hielt; sie waren so hoch in der Luft, daß Wälder und Felder, Flüsse und Seen sich wie auf einer Landkarte darstellten.
»Guten Morgen!« sagte der Ostwind. »Du könntest übrigens recht gut noch ein bißchen schlafen, denn es ist nicht viel auf dem flachen Lande unter uns zu sehen. Ausgenommen Du hättest Lust, die Kirchen zu zählen; sie stehen gleich Kreidepunkten auf dem grünen Brette.« Das waren Felder und Wiesen, die er das grüne Brett nannte.
»Es ist unartig, daß ich von Deiner Mutter und Deinen Brüdern nicht Lebewohl gesagt habe!« meinte der Prinz.
»Wenn man schläft, ist man entschuldigt!« sagte der Ostwind, und darauf flogen sie noch rascher von dannen. Man konnte es in den Wipfeln der Bäume hören; wenn sie darüber hinfuhren, rasselten alle Zweige und Blätter; man konnte es auf dem Meere und den Seen hören, denn wo sie flogen, erhoben sich die Wogen höher, und die großen Schiffe neigten sich tief in das Wasser hinunter, gleich schwimmenden Schwänen.
Gegen Abend, als es dunkel wurde, sahen die großen Städte hübsch aus; die Lichter brannten dort unten, bald hier, bald da; es war gerade, als wenn man ein Stück Papier verbrannt hat und alle die kleinen Feuerfunken sieht, wie sie einer nach dem andern verschwinden. Der Prinz klatschte in die Hände, aber der Ostwind bat ihn, das zu unterlassen und sich lieber fest zu halten, sonst könne er leicht hinunter fallen und an der Spitze eines Kirchturms hängen bleiben.
Der Adler in den dunkeln Wäldern flog zwar leicht, doch der Ostwind flog noch leichter. Der Kosak auf seinem kleinen Pferde jagte über die Ebenen davon, doch der Prinz jagte noch schneller.
»Nun kannst Du den Himalaya sehen!« sagte der Ostwind. »Das ist der höchste Berg in Asien, und bald werden wir nach dem Garten des Paradieses gelangen!« Sie wandten sich mehr südlich und bald duftete es dort von Gewürzen und Blumen. Feigen und Granatäpfel wuchsen wild, und die wilde Weinranke hatte blaue und rote Trauben. Hier ließen sich beide nieder und streckten sich in das weiche Gras, wo die Blumen dem Winde zunickten, als wollten sie sagen: »Willkommen hier!«
»Sind wir nun im Garten des Paradieses?« fragte der Prinz.
»Nein, noch nicht!« erwiderte der Ostwind; »aber nun werden wir bald dorthin kommen. Siehst Du die Felsenmauer dort und die große Höhle, wo die Weinranken gleich einer großen grünen Gardine hängen? Da hindurch werden wir hineingelangen! Wickle Dich in Deinen Mantel; hier brennt die Sonne, aber einen Schritt weiter ist es eisig kalt. Der Vogel, welcher an der Höhle vorbeistreift, hat den einen Flügel hier draußen in dem warmen Sommer und den andern drinnen in dem kalten Winter!«
»So, das ist also der Weg zum Garten des Paradieses?« fragte der Prinz.
Nun gingen sie in die Höhle hinein. Hu, wie war es dort eisig kalt! Aber es währte doch nicht lange. Der Ostwind breitete seine Flügel aus, und sie leuchteten gleich dem hellsten Feuer. Welche Höhle! Die großen Steinblöcke, von denen das Wasser träufelte, hingen über ihnen in den wunderbarsten Gestalten; bald war es da so eng, daß sie auf Händen und Füßen kriechen mußten, bald so hoch und ausgedehnt, wie in der freien Luft. Es sah
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