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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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längst verziehen. Alles, alles auf der Welt. Wie nur, wie konnte das sein? Niemand würde es je verstehen, Gittanicht und Linda nicht und nicht einmal sie selbst, doch das Unmögliche war möglich. Magnus hatte recht gehabt: In der Liebe gab es keine Vernunft.
    Wo würde sie Abel finden? Natürlich, in der Schule, morgen, aber es war unmöglich, in der Schule mit ihm zu sprechen, wo die anderen waren. Sie gab noch einmal Gas, das Auto ruckte an, die Räder drehten wieder durch. Der Hund hinter ihr hatte wieder begonnen zu winseln.
    Wenn wir uns in diesem unendlichen, eisigen Winter verlieren, wo finden wir uns dann wieder?, hörte sie die kleine Königin fragen. Und sie hörte auch die Antwort: Dort, wo Frühling ist.
    Die Tulpen. Die roten Tulpen in den Vasen im Utkiek.
    »Hier ist schon Frühling«, hatte Micha gesagt.
    Anna trat das Gaspedal noch einmal durch und diesmal machte der Wagen einen Satz. Sie ließ ihn ein Stück rollen, bremste und kuppelte aus. Ich kann es, dachte sie, ich kann fahren. Wenn es sein muss, kann ich vielleicht alles – sie rutschte zurück auf den Beifahrersitz, und der Sturm wehte Bertil ins Auto zurück. Sein dunkles Haar war voller weißer Schneeflocken, seine Brille beschlug sofort im warmen Wagen.
    »Cheers«, sagte er. »Der Führerschein ist dein.«
    Er beugte sich hinüber, ganz nah, und Anna wusste, dass er auf einen Kuss hoffte, er wirkte einen Moment lang so zuversichtlich, so fröhlich – sie küsste ihn mit geschlossenen Lippen auf den Mund, rasch.
    »Wir sollten machen«, sagte sie, »dass wir weiterkommen.«
    Als sie die Lichter von Eldena erreichten, die Supermarktreklame von Norma, die Laternen des Neubaugebiets, atmete Anna auf. Die Schneeverwehungen des freien Feldes blieben hinter ihnen zurück,hier war die Straße wieder eine Straße. Anna sah auf die Uhr im Auto. Halb sechs. Es war so dunkel wie um Mitternacht.
    »Kannst du mich bei der Brücke absetzen?«, fragte sie. »Linda … meine Mutter … sie trifft sich jeden Mittwochabend mit ein paar Freundinnen im Restaurant dort. Sie kann mich mit nach Hause nehmen.«
    »Soll ich dich nicht bis ganz nach Hause fahren?«
    »Das brauchst du nicht«, sagte Anna. »Wenn du mich bis zur Brücke fährst, das reicht völlig. Dann musst du nicht in die Stadt rein. Du wohnst doch auch außerhalb, oder? Auf der anderen Seite der Stadt?«
    Er nickte. »Von mir aus. Du bist dir sicher, dass deine Mutter dort ist?«
    »Ganz sicher«, sagte Anna. Und sie war sich sicher, dass ihre Mutter dort war. Die Frage war die Definition von »dort«. In Lindas Fall war »dort« das Haus in der Fleischervorstadt. Sie würde nie auf eine so abstruse Idee kommen wie die, sich mit irgendwelchen Freundinnen einmal wöchentlich in einem Restaurant in Wieck zu treffen. Bertil half ihr, das Fahrrad vor dem Restaurant bei der Brücke aus dem Auto zu zerren.
    »Du bist klatschnass«, sagte er. »Sieh zu, dass du bald nach Hause kommst.«
    »Ja«, sagte sie, und einen Moment standen sie sich im Schneetreiben gegenüber, frierend. Der Wind hatte nachgelassen, doch die Flocken fielen noch immer so stetig, als wollten sie die ganze Welt zudecken.
    »Du hast gesagt, jemand wäre dir gefolgt«, sagte Bertil. »Weißt du das genau? Hast du jemanden gesehen?«
    »Ja. Nein«, sagte Anna. »Immer wenn ich mich umgedrehthabe, war niemand mehr da … Was denkst du? Dass es Einbildung war?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Bertil. »Ich denke, dass ich in der Nähe bleiben sollte. Das Rettungsnetz.«
    »Danke«, sagte Anna, »danke, dass du mich mitgenommen hast. Aber ich brauche kein Rettungsnetz.«
    »Ha!«, sagte Bertil.
    Da nahm sie ihn in die Arme und drückte ihn ganz kurz ganz fest und dachte: Es tut mir leid es tut mir leid es tut mir leid, Bertil, aber es wird nie so werden, wie du willst. Und sie drehte sich rasch um und ging auf die Tür des Restaurants zu, wo sie das Rad an ein paar verwaiste Sommerklappstühle lehnte. Sie wartete im Vorraum des Restaurants, bis sie den Volvo abfahren hörte. Sie zählte bis hundert. Die Wärme des winzigen Vorraums war verlockend, ein Teil von ihr wollte bleiben, wollte ganz hineingehen, wollte einen heißen Tee bestellen und Magnus anrufen, damit er sie abholte. Sie blieb nicht. Sie trat wieder hinaus in die Kälte, hinaus in den Schnee. Sie rannte den ganzen Weg über die Brücke, schlitternd, rutschend, rannte den Fluss entlang bis zu seiner Mündung, bis zum Café dort auf der anderen Seite, ihre nassen

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