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Maerchenerzaehler

Maerchenerzaehler

Titel: Maerchenerzaehler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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Hosenbeine klebten an ihr, sie sah die Lichter des Cafés schon von ferne, die schwachen weißen Lichter eines nicht mehr geöffneten Cafés, sie hatten schon Feierabend dort, es war kurz nach sechs, vielleicht hatten sie gerade die Türen verschlossen. Das letzte Stück rannte sie noch schneller.
    Die zusammengeketteten Stühle auf der Caféterrasse waren unter dem Schnee kaum noch zusehen. Die Glaswand ragte hoch auf wie ein Gletscher. Und dort, im Windschatten des Gletschers, kauerte jemand, geduckt. Sie sah die Glutspitze einer Zigarette. Ein einziges Fahrrad stand vor der Treppe des Cafés. Anna rutschte auf den metallenen Treppenstufen aus in ihrer Eile, kam wieder hoch und sah, wie die kauernde Gestalt sich aufrichtete. Einen Moment hatte sie Angst, es könnte jemand anders sein.
    Es war niemand anders.
    Es war Abel.
    Er sagte nichts. Er trat seine Zigarette aus und stand da und wartete ab, bis sie zu Atem kam. Er sah zur Seite, aufs Eis, das ein Scheinwerfer von der Terrasse aus beleuchtete.
    »Wenn wir uns verlieren, treffen wir uns dort, wo Frühling ist«, sagte sie schließlich. »Wie lange wartest du hier schon?«
    »Seit Montag«, sagte er. »Seit Montag habe ich jeden Nachmittag gewartet.«
    »Seit … Montag«, wiederholte sie. »Seit Montag warst du jeden einzelnen Nachmittag hier draußen?«
    Er nickte. »Es war kalt.«
    »Und … Micha?«
    »Gestern und vorgestern war sie mit. Sie ist übers Eis geschlittert und hat den anderen Leuten beim Schlittschuhlaufen zugesehen. Seitdem liegt sie mir mit der fixen Idee in den Ohren, dass sie Schlittschuhe braucht. Heute ist sie bei ihrer Schulfreundin. Ich … ich habe sie lange nicht mehr dort hingehen lassen, aus Angst, dass jemand anders sie von dort abholt, jemand, der nicht ich ist … aber irgendwann müssen Erstklässler ihre Freunde besuchen … Ich werde sie jetzt holen gehen. Es ist Zeit.«
    Er hatte sie die ganze Zeit über nicht angesehen. Seine Stimme sagte: Ich spreche von anderen Dingen, um nicht von dieser einen Sache zu sprechen. Aber um sich wiederzufinden, dachte Anna, mussten sie darüber sprechen. Sie mussten es zumindest versuchen.
    »Was geschehen ist …«, begann sie.
    »Was geschehen ist, kann man nicht wiedergutmachen«, sagte er. »Ich habe dir das geschrieben. Ich weiß nicht, ob du die Briefe gelesen hast?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Er nickte. »Gut. Es waren dumme Briefe. Dumme Worte. Nutzlos.« Und endlich sah er sie an. In seinen Augenbrauen war Schnee. Er musste sehr lange hier gewartet haben, hier in der Kälte, wo nur hinter den Scheiben Frühling war. »Ich bitte dich nicht um Verzeihung. Was geschehen ist, kann nicht verziehen werden. Es ist das Schlimmste … das Schlimmste von allen Dingen, die geschehen können. Es ist genau das, was ich nicht wollte.«
    Und sie wusste, dass sie an dieser Stelle hätte fragen müssen, warum dies alles geschehen war, eine Erklärung verlangen, den Grund, er hatte in seinem Brief geschrieben, es gäbe einen Grund. In dem Brief, den sie beinahe doch gelesen hätte … Es war die logische Konsequenz der Ereignisse, jetzt zu fragen. Sie fragte nicht. Sie wollte nichts wissen, nichts erklärt haben. Nicht jetzt.
    Sie fand seine Hände und nahm sie in ihre. Er trug keine Handschuhe. Wie viele Stunden hatte er auf sie gewartet, in all jenen Tagen? Wie viele eisige, unendliche Stunden?
    »Auch das Schlimmste kann verziehen werden«, flüsterte sie. »Das Unmögliche ist möglich. Am schwierigsten ist es immer, sich selbst zu verzeihen …«
    »Laotse?«, fragte er, und es kam ihr vor, als wäre da der Anflug eines Lächelns.
    Sie nickte. »Tausendundein Kalenderspruch im Brigitte -Hausfrauenkalender.«
    Und dann umarmte sie ihn, ganz anders als Bertil, sie fiel in dieseUmarmung wie in warmes Wasser, wie auf ein Sofa, wie in einen Sommertag, wie in die Tür eines Ortes, der Zuhause war.
    »Komm zurück«, flüsterte sie. »Zu mir.«
    »Das muss ich nicht«, flüsterte er. »Du bist zurückgekommen.«
    »Ich habe niemandem von dieser Sache erzählt«, sagte sie und spürte, wie er nickte.
    »Das … habe ich daraus geschlossen, dass ich noch lebe. Dein Vater wirkt nicht sehr zimperlich, wenn es darauf ankommt.«
    Eine Weile standen sie so, schweigend, noch immer in einer Umarmung verfangen, die jetzt nichts mit anderen, weiterführenden Dingen zu tun hatte. Sie würde nie wieder irgendjemanden zu irgendetwas zwingen. Hinter der Glaswand des Cafés blühten die Tulpen in der

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