Märchenerzähler
Nachbarin, die sich Sorgen macht. Und sie hat das Arbeitslosengeld zwei seit einiger Zeit nicht … in Anspruch genommen.« Er seufzte. »Vielleicht wäre es doch besser, ich spräche mit …« Er sah in Richtung Tür.
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Abel kam herein, einen Teller Pfannkuchen in der Hand. Anna verstand nicht, was er mit diesem Auftritt bezwecken wollte. Marinke klarmachen, dass Micha keineswegs verhungerte? Es wirkte seltsam, wie er da mit dem Berg Pfannkuchen in der Tür stand, ein großer Bruder aus einem Märchen, aber abgesehen von der Tatsache, dass er die Pfannkuchen trug, sah Abel herzlich wenig nach Märchenbruder aus. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, als wollte er zeigen, dass er durchaus die Muskeln dazu hatte, jemanden wie Sören Marinke an die Luft zu setzen. Anna sah die runde Narbe auf seinem linken Arm rot leuchten, und er wirkte, als hätte er Probleme, seine Gesichtszüge zu kontrollieren. Bedrohlich, das war das Wort. Er sah wieder bedrohlich aus – wie damals im Kollegstufenraum, wie im Mittendrin, als er Bertil gegenübergestanden hatte. Der Teller mit den Pfannkuchen wurde zu einem lächerlichen Theaterutensil in seiner Hand.
»Abel … Tannatek«, sagte Marinke und stand auf. »Ich bin …«
»Ich weiß. Sie sind vom Sozialamt«, sagte Abel. »Das war nicht zu überhören. Aber dies ist ein völlig überflüssiges Gespräch. Ich habe eben mit Michelle gesprochen. Sie hat angerufen. Sie kommt zurück. Ich schicke sie bei Ihnen vorbei, sobald sie auftaucht. Morgen schon.«
»Sie hat … jetzt gerade angerufen?«, fragte Marinke und runzelte die Stirn. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen das nicht glaube.«
»Ich kann Sie nicht zwingen, mir zu glauben«, sagte Abel kalt, »aber morgen werden Sie mit unserer Mutter sprechen. Sie haben ja sicher ein Büro mit einer Zimmernummer.«
Marinke suchte in der Aktenmappe, suchte in den Taschen seiner Jacke und fand eine Visitenkarte, die er Abel in die freie Hand drückte.
»Meine Telefonnummer ist auch darauf«, sagte er. »Rufen Sie mich an. Falls … Ihre Mutter aus irgendeinem Grund verhindert ist. Wir können uns unterhalten. Wir können über alles reden.«
Abel legte die Karte auf den Tisch und stellte den Teller mit den Pfannkuchen daneben.
»Worüber?«, fragte er. »Über Micha und darüber, wie sie ohne ihre Mutter hier vor die Hunde geht?«
»Nein, ich …«
»Sie wollen natürlich die Wohnung sehen«, sagte Abel mit schneidender Höflichkeit. »Sie wollen wissen, ob wir in einem völlig verwahrlosten Haushalt leben. Sie wollen nur sichergehen, dass in Greifswald keine Kinder vergessen werden, so wie anderswo, eingesperrt, misshandelt … Die Zeitungen sind ja voll davon. Interessant ist, dass die Mütter der Zeitungskinder meistens anwesend waren. Bitte.« Er machte eine Geste zum Flur. »Sehen Sie sich um. Stecken Sie Ihre Nase in unsere Schränke. Suchen Sie nach den Zeichen der Verwahrlosung.«
»Abel …«, begann Anna. Doch der Blick, mit dem er sie ansah, ließ sie verstummen.
»Ich bitte Sie«, sagte Marinke. »Wenn Sie schon unbedingt Klischees bedienen wollen, dann kann ich Ihnen gleich sagen: Ich bin natürlich der böse Beamte, der Familien auseinanderreißt und Kinder bei Wasser und Brot in ungeheizte Heime steckt.« Er sah Abel anund schüttelte den Kopf. Seine Stimme war noch immer freundlich. »Ich bin da, um zu helfen«, wiederholte er und wollte Abel eine Hand auf die Schulter legen, doch Abel machte einen Schritt zurück.
»Sehen Sie sich die Wohnung an«, sagte er. Es war beinahe ein Befehl.
»Von mir aus«, sagte Marinke. Er ging in den Flur und Abel, Micha und Anna folgten ihm.
»Was soll das?«, flüsterte Anna. »Abel, das nützt doch nichts …«
Marinke öffnete jede Tür einen Spaltbreit, man konnte sehen, dass er nicht in die Zimmer sehen wollte. Die Situation war seltsam. Schließlich riss Micha ihre Zimmertür weit auf und sagte: »Das ist mein Zimmer, das können Sie ruhig mal angucken, so ein Hochbett haben Sie sicher nicht.«
Anna sah ein Lächeln über Marinkes Gesicht huschen.
»Abel hat es gebaut«, fügte Micha schnell hinzu. Das Lächeln auf Marinkes Gesicht wurde traurig. Vielleicht, dachte Anna, fühlt er wie ich. Vielleicht ist das die gleiche Traurigkeit, die ich selbst kenne. Vielleicht geht auch Sören Marinke manchmal durch seine eigene Wohnung und ist traurig darüber, wie schön sie ist …
Er drehte um und ging langsam den Flur entlang,
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