Märchenkranz für Kinder - Märchen der Welt ; 67
aus dem Neste geworfen hatte, war die Mutter nach Hause gekommen, und fragte den Kuckuck, wo klein Grasmückchen sey. Der aber sagte: »Ja, das ist ein recht boshaftes Kind; es hat mich aus dem Neste jagen wollen, ich habe mich aber gewehrt, und da ist es davongeflogen.« Die alte Grasmücke hatte das geglaubt, und war fortgeflogen, um dem Kuckuck Fressen zu holen. Der war aber gar nicht mehr zu sättigen, und die alte Grasmücke wurde ganz matt vom vielen Hin- und Herfliegen.
Als sie aber eines Abends sehr müde nach Hause gekommen war, wollte der Kuckuck, daß sie noch ein Mal ausflöge; sie aber ward unwillig, und sagte: »Du kannst satt seyn für heute, du fauler Vielfraß; warte bis morgen!« Da riß er seinen Schnabel ganz schrecklich auf, und sagte: »Wenn Du mir nicht gleich zu essen giebst, so fresse ich Dich.« Da fürchtete sich die alte Grasmücke, und flog davon. Als aber am andern Morgen der Kuckuck sah, daß die alte Grasmücke nicht mehr zurückkommen wollte, sah er sich gezwungen, jetzt selbst seine Nahrung zu suchen; er flog darum aus dem Neste, zerriß es aber aus Bosheit, und warf es auf die Erde.
Die alte Grasmücke hatte ihr Grasmücken-Töchterchen überall aufgesucht, hatte es aber nicht finden können. Da flog sie auf einen Busch, dessen Blätter hatte ein Knabe mit Vogelleim bestrichen. Als sie nun wegfliegen wollte, konnte sie nicht; da fing sie an zu schreien und mit den Flügeln zu schlagen, aber sie konnte nicht loskommen; und der Knabe lief herzu, nahm sie, und setzte sie in einen Käfig. Er gab ihr aber zu essen und zu trinken, und behielt sie den Herbst und Winter über bei sich.
Unterdessen hatte auch klein Grasmückchen seine Mutter vergeblich gesucht. Da kam sie einmal zu einer Nachtigall, die sagte: »Ich will Dir einen guten Rath geben. Wir reisen jetzt bald in das Land nach Mittag zu, da gehe Du mit uns, vielleicht findest Du Deine Mutter.« Grasmückchen war damit zufrieden, und als es Nacht war, flog es mit den Nachtigallen fort, die wurden von einer Königinn angeführt. Sie flogen nur des Nachts, am Tage aber schliefen sie in einem dichten Gehölze, oder sie suchten ihre Nahrung, und aßen und tranken.
Nachdem sie über ein großes Meer geflogen waren, kamen sie in ein Land, das lauter Sand war, so weit man sehen konnte. Ganz am Ende aber sah man einen erhabenen Punkt; das war eine Insel in dem Sandmeere, die grünte das ganze Jahr, während rings herum alles verdorrt und erstorben war. Mitten auf der Insel war eine kleine Quelle, die floß aus einem Felsen heraus, und lief über eine Wiese; als sie aber in den Sand kam, versiegte sie plötzlich vor der großen Hitze. Auf der Insel hingegen war es kühl und schattig, und die Nachtigallen sangen wunderschön, und wenn sie gesungen hatten, badeten sie sich in dem klaren Wasser.
Grasmückchen suchte vergeblich nach seiner Mutter, sie war nirgend zu finden. Die Nachtigallen blieben aber so lange hier, bis in ihrer Heimath der Winter vorbei war, und auf der Insel der Herbst anfing; da flogen sie wieder zurück, die Nachtigallen-Königinn aber flog voraus.
Ehe sie nun über das große Meer flogen, machten sie einmal Halt, und setzten sich am Ufer nieder, um Kräfte zur Ueberfahrt zu sammeln. Da scharrte Grasmückchen ein wenig im Sand, und fand zwei schwarze, glänzende Kugeln. Die, dachte sie, will ich mitnehmen, und will sie dem Knaben schenken, der mich gefüttert und gepflegt hat. Sie nahm sie also in ihre Klauen, und flog mit ihnen über das Meer in ihre Heimath.
Als sie hier ankam, war auch der Frühling gekommen. Da schien nun die Sonne so freundlich durch das Fensterlein, hinter welchem Grasmückchens Mutter im Käfig gefangen saß; sie wäre aber gar gerne draußen gewesen in der frischen, freien Luft. Das merkte der Knabe, und hing den Käfig vor das Fenster, und die Grasmücke wurde gar lustig und munter. Da sah sie eine andere Grasmücke herbeifliegen, die hatte zwei schwarze Kugeln in ihren Krallen; es war aber ihr Töchterlein, das junge Grasmückchen. Da rief sie schnell: »Mach auf, mach auf!« Das kleine Grasmückchen schob schnell den Riegel vor dem Thürchen zurück, und husch! flog die Alte heraus. Als sie sich nun einander wieder sahen, da weinten beide vor Freude, und erzählten sich auf einem nahen Baume Alles, was ihnen seitdem begegnet war.
Hierauf sagte die Alte: »Willst Du nicht dem Knaben, der mich den ganzen Winter über gefüttert hat, eine von den
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