Maeve
Stampfen der Brandung.
Noch ein Paar Minuten, und sie glitten an den Sandsteinklippen vorbei. Als die Flußmündung die Strömung zu beeinflussen begann, fing das Boot an zu rucken. Gwynnor packte Sioneds Hand und schloß ihre Finger um die Pinne. „Halte den Bug geradeaus. Ich hole das Segel herunter und lotse uns dann hindurch.”
Während Gwynnor im Bug Wache stand, glitt das Boot auf der Hauptströmung in die Bucht hinein. Mit erneut hochgezogenem Segel hielten sie auf die Insel zu, die als tiefhängende schwarze Wolke am Horizont sichtbar war.
6
Shadith legte die Harfe auf die Bartheke und zog sich zurück.
Aleytys streckte sich, paßte sich wieder in ihren Körper ein. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und überblickte den Raum. Heute abend waren mehr Tische besetzt. Dryknolte stand da, die Arme über seiner massigen Brust verschränkt, und sah erfreut aus. Aleytys freute sich ihrerseits auch über diesen Beweis ihres Erfolges.
Dann erkaltete die Freude in ihrer Brust. Der kleine graue Mann kam aus dem Vorraum und schritt zu einer schmalen Bank in einer dunklen Ecke. Er begnügte sich nicht damit, zu ihr her
überzusehen. Er brauchte es nicht. Überall. Er tauchte überall auf.
In der Garküche vor einer Stunde, als sie mit Bran geredet hatte.
Draußen, vor Tintins Haus — heute morgen. Chu Man-hanu. Es konnte nicht anders sein. Aber warum? Sie fröstelte. Was wollte er. Und warum wartete er? Es ergab keinen Sinn.
Sie stieß sich von der Bartheke ab, ging wahllos drauflos, stoppte am ersten Tisch, den sie erreichte. Ein ziemlich dünner, dunkelhaariger Mann mit einem klugen, lächelnden Gesicht. Er saß allein da.
„Willst du dich zu mir setzen?” Seine Stimme war tief und angenehm.
Sie zögerte. Lovaxy Beschreibung paßte zu gut auf ihn. Vor ein paar Stunden hatte Bran sie erneut vor diesem Mann gewarnt und gesagt, er würde herumschnüffeln und versuchen, mehr über sie herauszufinden. Sie sah zu Dryknolte. Er polierte gelassen den Tresen und sprach mit einem großen, schlanken Mann mit grauweißem Haarschopf. Beruhigt setzte sie sich. „Du mußt mir einen Drink spendieren.”
„Ich kenne die Regeln.” Er nickte dem Schauspieler zu. „Bring der Despina, was sie haben will.” Als sich der große, blonde Mann entfernte, konzentrierte er sich auf Aleytys. „Man nennt dich Bernstein.”
Aleytys nickte. „Und dich?”
,,Grey.” Er hob sein Glas und nippte an dem Wein; der Schauspieler brachte den Drink, stellte das Glas vor sie und nahm den Preis von dem Münzenhaufen in der Mitte des Tisches. Als der große Mann wieder an der Bar stand, sprach Grey wieder. „Deine Lieder interessieren mich.”
„Oh?” In dem Mann war eine ungestüme Neugier, die er im Zaum hielt. Er gierte danach zu wissen, wer und was sie war.
„Ich habe eine Schwester. Ein paar Jahre älter.”
„Eine Verseschmiedin?”
„Nein. Eine Gelehrte. Spezialistin für Alte Sprachen.”
„So?”
„Was ist das für eine Sprache, in der du gesungen hast?”
„Warum?”
„Eine Frage mit einer Frage beantworten?”
„Warum die erste Frage stellen? Es geht dich nichts an.”
„Neugier, Bernstein. Neugier darauf, woher du diese Sprache und speziell dieses Lied kennst.” Er hob eine Augenbraue, sein Mund dehnte sich zu einem zynischen Grinsen. „Es gibt einen Gedichtzyklus aus der Vorzeit, in einer fast vergessenen Sprache aufgezeichnet. Meine Schwester stieß im Verlauf ihrer Arbeit darauf. Interessant. Die Erzeugnisse einer wandernden Dichterin, eines rothaarigen Weibsbilds, das von einer Welt zur anderen zieht, zu ruhelos, um sich an irgendeinem Ort niederzulassen, ihre Herkunft im dunkeln.”
„So?”
„Der Zyklus ist mehrere tausend Jahre alt. Soweit ich weiß, ist meine Schwester die einzige, die diese Gedichte hörte und übersetzte.”
„Interessant.”
„Das ist alles, was du dazu sagst?”
„Ein Lied. Können nicht zwei Liedermacher dieselbe Inspira
tion haben?”
„Dieselben Worte? Dieselbe Sprache? Und es ist nicht nur ein Lied, es sind alle Lieder, die du singst. Jedes einzelne gehört zu jenem Zyklus. Das letzte Mal, als wir uns trafen, hieß mich Marishe hinsitzen und ihren Aufnahmen zuhören. Jeder verdammten einzelnen davon. Während sie davon geschwärmt hat.” Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und hob sein Glas in einem spöttischen Salut. „Dieselbe Sprache, derselbe Klang, sogar dieselbe Phrasierung wie bei den Aufnahmen. Faszinierend.”
„Und du hättest gern
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