Magierdämmerung 02 - Gegen die Zeit
ZWISCHENSPIEL :
VORBOTEN DES CHAOS
»Williamsburg. Während einer Verhandlung am Lee-Avenue-Polizeigericht überraschte Richter Goetting gestern Vormittag jedermann durch das Strafmaß, das er den Angeklagten aufbürdete, die bei einer Veranstaltung mit unzüchtigem Tanz verhaftet worden waren. 14 Zuschauer mussten $10 bezahlen, Saloonbesitzer Magnus Hartman $100. Tänzerin Annie Nelson wurde zu 29 Tagen Haft verurteilt. ›Es ist an der Zeit‹, sagte Richter Goetting, ›dass harte Maßnahmen ergriffen werden, um diesen Praktiken ein Ende zu bereiten.‹«
– New York Times, 21. April 1897
21. April 1897, 20:33 Uhr GMT
England, Brixworth, einige Meilen nördlich von Northampton
Still und verlassen lag der alte Steinbruch da. Fahles Mondlicht fiel durch Lücken in der zerfaserten Wolkendecke und beschien die von tiefen Schatten erfüllten Gruben, in denen Eisenerz abgebaut wurde. Schienenstränge für die Güterzüge, die das Erz abholten, glänzten in der Dunkelheit, und ein hoher Zaun umgab das ganze Gelände, der dafür sorgen sollte, dass sich keine Unbefugten darauf herumtrieben.
David war sich im Klaren darüber, dass diese Vorsichtsmaßnahme durchaus ihren Sinn hatte. Es gab vielerlei Möglichkeiten, sich auf dem unwegsamen Gelände zu verletzen, etwa wenn man durch unbedachtes Herumtollen auf dem Abraum ausrutschte oder beim Balancieren am Rand der Gruben fehltrat und eine der steilen Abbruchkanten hinunterstürzte. Noch gefährlicher waren die Dynamitschuppen, in denen das Material zur Sprengung des Gesteins gelagert wurde. David wusste nicht, wie und warum, aber man hörte immer wieder davon, dass irgendwelche Pfützen, die sich in den Schuppen und um sie herum bildeten, unvermittelt explodierten. Sein Vater hatte es ihm einmal erklärt, aber der zehnjährige Junge hatte es nicht ganz begriffen. Es hatte irgendetwas mit einer Flüssigkeit zu tun, die aus den Dynamitstangen austrat. Jedenfalls hatten solcherlei Explosionen den alten Fletcher vor einigen Jahren sein linkes Bein und den unglücklichen Broomfield im letzten Sommer sogar das Leben gekostet.
»Halte dich von den Steinbrüchen fern!«, lautete daher eine der zahlreichen Regeln, die man als Junge, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Brixworth aufwuchs, eingebläut bekam; Tatsächlich hoben Eltern, Lehrer und Polizisten diese eine stets besonders hervor. David verstand das durchaus. Nichtsdestoweniger beabsichtigte er, sie am heutigen Abend zu brechen.
Eigentlich war es ja gar nicht wirklich seine Schuld, sondern die seines Freundes Percy, der, als sie vorhin kurz vor dem Essen noch einmal in ihrem Geheimversteck oben auf dem Heuboden zusammengekommen waren, behauptet hatte, auf dem Heimweg von seiner Arbeit auf dem Hof von Mister Cripps unten am Steinbruch an der Harborough Road so ein seltsames Keuchen und Schnaufen gehört zu haben – Geräusche wie von einem Drachen.
Nach einem solchen suchten die beiden Jungen schon, seit Pastor Bates ihnen im letzten Herbst während des Religionsunterrichts die Legende vom Heiligen Georg und seinem Kampf gegen den Drachen erzählt und der alte Hausmeister Fletcher später hinzugefügt hatte, er hätte in seiner Jugend selbst noch einen Drachen gesichtet – gleich hier in den Hügeln von Northamptonshire! Sie waren regelrecht besessen von der Vorstellung, ein derartiges Ungetüm aufzuspüren und es vielleicht gar, dem Beispiel des Ritters folgend, zu besiegen. Lanzen hatten sie sich bereits gebaut, wobei es sich eigentlich nur um angespitzte Holzstöcke handelte, aber in ihrer Fantasie genügte das. Allerdings war ihre Suche nach dem Drachen in den Feldern und Wäldern rund um Brixworth bislang ergebnislos verlaufen.
Bis zu diesem Abend.
»Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Percy leise, während sie Seite an Seite zwischen den Zaunbrettern hindurch auf den dunklen Steinbruch starrten.
»Sei kein Feigling, Percy«, wies David seinen Freund, der doch ein Jahr älter war als er, zurecht. »Immerhin hast du behauptet, der Drache sei hier. Da kannst du jetzt keinen Rückzieher machen.« Er packte seine Lanze fester und hob die Öllampe, die er mitgebracht hatte, damit sie sich in der Finsternis nicht die Knochen brachen.
Neben den Waffen trugen die beiden Jungen suppentopfartige Helme und Brustpanzer aus Leder, auf die sie annähernd schuppenförmig geschliffene Metallreste genäht hatten. Es steckte eindeutig mehr Eifer als Geschick in dieser Ritterrüstung, aber genau
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