Magnolienschlaf - Roman
»Nein!« Wilhelmine beißt sich auf die Lippen, schiebt die Hand mit dem Becher von sich, kein Wasser, nicht einen Schluck,
nie wird sie den Geschmack vergessen, den Geschmack des letzten Schlucks, o nein …
»Gisela ist tot, ja?«
Nur ihr gelegentlich aufröchelnder Atem verrät das Leben, das noch in ihr steckt.
Jelisaweta könnte nicht sagen, wie lange sie schon so am Bett der alten Frau gesessen und ihr nach und nach einen halben Becher
Wasser eingeflößt hat. Die Farben verschwinden, schweres, schweigendes Blau lagert sich auf Möbeln, Decke und Wänden ab und
sucht die Zeit zu konservieren. Nur das feine Ticken des zierlichen goldenen Weckers auf dem Nachttisch ist manchmal zu hören,
dann verstummt es für kurze Zeit, und die Lautlosigkeit dröhnt, als hielte man Watte auf die Ohren gepresst. Sie wird ihr
entgleiten, diese alte Frau, wird vor ihren Augen zerfallen wie sprödes, brauntrockenes Laub. Jelisaweta stellt sich vor,
wie es wäre, niemandem Bescheidzu sagen, sondern einfach hier sitzen zu bleiben, an diesem Bett, mit der faltigen Hand in ihrer, und darauf zu warten, dass
die Alte langsam verweht. Und mit ihr die unheilvolle Geschichte jener Gisela, von der dann niemand mehr erfahren wird.
Ein Lastwagen fährt am Haus vorbei, ein kurzes Dröhnen, ein Rumpeln, dann ist es wieder still. Wilhelmine müht sich am Atem
wie an zähem Brei. Bis zum letzten Treppenabsatz hat sie es geschafft, sich nur am Geländer festgehalten, und ist in die Knie
gegangen, auf der untersten Stufe.
Gisela ist tot
, das war alles, was sie herausgebracht hat,
jemand muss sie beerdigen
. Die Worte haben ihr den Mund versengt, und als sie ausgesprochen waren, da wusste sie, dass sie die schlimmsten Worte ihres
Lebens hinter sich hatte, dass sich alles, was sie fortan zu sagen hätte, kalt dagegen ausnähme. Erika ist gekommen, mit ihrem
dicken Mutterbauch, Wilhelmine hätte schreien wollen, aber da war nichts mehr in ihr, alles nur leer. Dann kam die Schwiegermutter
ins Treppenhaus. Erika hat sie am Arm zurückgehalten. »Hilde«, hat Erika ganz leise zu ihr gesagt, so leise, als dürfe Wilhelmine
es nicht hören, »Hilde, Gisela ist tot.«
Da hat Wilhelmine der Mut verlassen. Wie hätte sie es ihr denn sagen sollen? Sie hat sich aufgerappelt und ist hinter den
beiden her, in Hildes gute Stube, die Gardinen waren schon wieder an den Fenstern, staubiges Licht herrschte, die Frühlingssonne
kam nicht richtig durch. Da saßen sie, Wilhelmine auf dem Stuhl neben der Türe,die anderen beiden auf dem Sofa, eine stumme Wand. Erika hatte die Hand auf Hildes Schulter liegen, Mörtel, damit Hilde nicht
umfiele.
Erika hat angefangen, Fragen zu stellen, erst noch mitfühlend, dann immer barscher und eindringlicher, hat schließlich auf
sie eingeschlagen mit ihren Fragen, und Wilhelmine wusste, dass es unaussprechlich ist, jetzt, wo kein Krieg mehr ist und
wieder andere Regeln gelten. Sie haben es dann doch aus ihr herausgekriegt. Heulend hat Erika sich den Bauch gehalten und
ist rausgelaufen.
»Du hast sie umgebracht!«, hat Hilde geschrien. »Mör derin ! Das Mensch hat meine Gisela umgebracht!«
Wilhelmine nickt.
»Ich hab …« Sie hält die Worte wie ein Stück Holz in der Hand. »Ich hab sie … umgebracht.«
Keine spricht ein Wort. Nur ein sprachloses Flüstern ist es, das die Russin von sich gibt.
»Du hast –?«
Wieder nickt Wilhelmine, steigt über die Stufen hinab, sieht die Matratze, die Decke, in die sie sich eingehüllt hat, schaut
sich um, sieht die Gesichter der Frauen, fratzenhaft im winzigen Licht der Petroleumlampe.
»Wir hatten nur noch Angst. Wir wussten, dass sie kommen, die Russen. Der Tod war der einzige Weg …« Wilhelmine wartet, schweigt,
bis das Beben abebbt, dann nickt sie in die Dunkelheit. »Du kannst alles tun, solange du weißt, es gibt kein Danach. Wenn
du dir keine Gedanken mehr darum machen musst, wem du Rechenschaft schuldest, dann hast du nur noch dich selbst. Und die Wahrheit.
Aber es gibt mehr als eine Wahrheit.Es gibt die Wahrheit davor und die Wahrheit danach.«
»Wie hast du gemacht?«
»Wir … haben Gift genommen. Alle.« Sie wiederholt es gleich einer Beschwörung. »Alle. Ach, wenn sie nur bei der Oma Hilde
gewesen wäre, dann wäre sie am Leben geblieben und ich … Sie ist immer gerne zu ihr gegangen …« Unvermittelt taucht das Bild
des Hinterhofs auf, wie gekämmt liegen Gemüsebeete zwischen den Häuserwänden, unter
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