Magnolienschlaf - Roman
graugesprenkelten Fußboden. Plötzlich ist alles klar.
Die Alte. Die Schändung. Das Kinderkettchen. Das nächtliche Geschrei. Ein Kind. Gisela.
Und auf dem Nachhauseweg hat nichts in ihr Raum als der Gedanke an Gisela, das verhasste Ergebnis jener Schändung durch den
russischen Soldaten. Sie hat es nicht gewollt, sondern weggegeben, denkt Jelisaweta, einfach weggegeben. Zu fremden Leuten,
in fremde Hände. Gisela, das Russenkind.
Wilhelmine tastet nach der Klingel, drückt, wartet, drückt wieder, doch es regt sich nichts, nur das Prasselnvon Regentropfen ist zu hören, die gegen das Gaubenfenster schlagen. Sie fühlt noch einmal mit der Hand unter die Decke, fährt
durch die Bettritze, schaut zum Nachttisch, aber da stehen nur der Wecker und das Wasserglas. Die Russin hat die Fernbedienung
weggenommen, das Weibsstück, das sieht ihr ähnlich; Wilhelmine starrt auf die totschwarze Mattscheibe und spürt, dass ihr
Tränen in die Augen steigen. Alles entreißt sie ihr, die Fernbedienung, die Kette und den Seelenfrieden, und für Wilhelmine
bleiben nichts als Erinnerungen. Bilder, die auf sie einschlagen wie die Tropfen auf die Fensterscheibe. Ihr Gesicht, immer
wieder ihr Gesicht, das friedlich schlafende, lauthals lachende, zornig entstellte. Das lebendige. So nah ist sie ihr.
Und langsam und zum ersten Mal geht Wilhelmine den Bildern entgegen, anstatt zu fliehen. Steigt die klamme Betontreppe hinab,
vorsichtig jeden Tritt setzend, weil die Stufen so hoch sind, dass man unvermittelt glaubt, ins Leere zu treten. Ihre Hand
sucht Halt an der Wand, tastet über den rauen, bröseligen Putz, der nur grob die Backsteine verdeckt. Irgendjemand ist mit
dem Kopf gegen die Petroleumlampe gestoßen, ihr Lichtkegel rotiert auf dem Boden in immer kleiner werdenden Bahnen. Wieso,
fragt sich Wilhelmine, stößt keiner an den beiden Pfeilern an, die mitten im Raum stehen, obwohl die Phosphorfarbe, mit der
man Ringe darum gemalt hat, viel schwächer leuchtet als die Funzel?
Sie schleift ihre Matratze hinter sich her, das sperrige Ding, die Kante holpert die Stufen hinab. Oben schlägt jemand die
Türe zu.
Wilhelmine zuckt zusammen. Das war nicht die Kellertür,vorsichtig öffnet sie die Augen, schaut auf die Damastrosen der Bettwäsche und hört jetzt die Russin, wie sie in der Küche
rumort. Es dauert nicht lange, und Schritte kommen die Treppe hinauf, forsch und mit Nachdruck, war sie nicht gestern noch
so verzagt gewesen? Oder war das heute früh? Wilhelmine sieht ihr entgegen, will anheben und die Fernbedienung einklagen,
doch die andere kommt ihr zuvor, stellt mit so viel Verve einen Wäschekorb auf den Stuhl, dass Wilhelmine die Worte entgleiten.
»Es macht nicht Schande, russisch zu sein, denk dir das!«
Wilhelmine weiß keine Antwort zu geben, was sollte sie darauf sagen, einzig der Ton nimmt sie gefangen, ein neuer Ton, der
Mut der Verzweiflung schwingt darin mit.
»Wo hast du meine Fernbedienung? Die holst du mir. Sofort!«
»Aber es macht Schande, was du gemacht hast mit deinem Kind!«
Wilhelmines Atem stockt. Hitze schießt ihr in den Leib, in die Wangen, in die Brust. Sie wird sterben. Jetzt. Sofort. Wie
festgenagelt starrt sie das Mädchen an, bringt es nicht fertig, den Kopf zu wenden. Es hat ohnehin keinen Sinn, das hier ist
etwas anderes, die hier ist etwas anderes, Wilhelmine hat es gespürt, von Anfang an. Die hier weiß alles.
Nur ein Flüstern gelingt ihr. »Mit meinem Kind.« Es hätte wie eine Frage klingen sollen, doch Wilhelmine schafft es nicht,
die Stimme rechtzeitig zu heben.
»Mit deinem Kind, ja, was du hast fortgeschickt.«
Fortgeschickt. Wilhelmine lächelt bitter, sieht dasMädchen an; die Milde des Wortes treibt ihr Tränen in die Augen. Fortgeschickt. Wenn sie doch weinen könnte, schreien könnte,
ihr Einhalt gebieten könnte. Wenn sie doch sagen könnte, dass sie es nicht gewollt hat, nicht so, nicht das, niemals. Dass
sie sich seither nichts sehnlicher gewünscht hat, als dass sie ihr hätte folgen dürfen.
»Pah, meine Großmutter hat wenigstens großgezogen ihr Kind, auch wenn es deutsches Kind war.«
Wilhelmine presst Lippen und Lider zusammen. Großgezogen. Noch ein Wort, das wie ein Messer sticht, wie oft hat ihr das nicht
in die Seele geschnitten, jahrelang, Tag für Tag. Wie oft hat sie nicht lautlos beweint, was hätte gewesen sein können, all
die kleinen und großen Stationen, die Nichtigkeiten und Meilensteine, die wie
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