Seelenkälte: Ein Fall für Suna Lürssen (German Edition)
Mittwoch, 27. Februar
Es war erst kurz nach zehn, doch Rüdiger Tenstaage kam es schon viel später vor, mindestens Mitternacht. Er sah auf die fünf Uhren, die im globalen Business-Stil in Granit gefasst an der Wand hingen. New York – Los Angeles – Tokio – Moskau – Hamburg stand darunter, und alle fünf hatten eins gemeinsam: Die Sekundenzeiger, die sich jeweils an der exakt gleichen Stelle des Zifferblatts befanden, bewegten sich mit quälender Langsamkeit.
Der Vertrag, den sie seit mehr als fünf Stunden aushandelten, befand sich eigentlich längst in trockenen Tüchern. Trotzdem ritt Helge von Stanbach, der Anwalt des Bauunternehmens, mit dem Tenstaage eine Kooperation eingehen wollte, unermüdlich auf einzelnen Formulierungen herum. Es ging immer nur um ein oder zwei Wörter oder sogar nur um die Satzstellung, die geändert werden sollten, aber das zog sich jetzt schon seit mehr als zwei Stunden so hin. Dabei waren sie sich doch eigentlich in allen Punkten einig. Der Graf, wie Tenstaage Stanbach insgeheim nannte, war Wirtschaftsjurist, und genau diese Ausbildung schlug jetzt bei ihm durch. Der typische Korinthenkacker, dachte Tenstaage abfällig. Zwölf Semester Jura mussten wohl einfach ihre Spuren hinterlassen.
Sie befanden sich im sechsten Stock eines relativ neuen Bürokomplexes in der Hamburger Hafencity. Hier hatte Stanbachs Kanzlei einige Büroräume angemietet, zu denen auch der Konferenzsaal gehörte, in dem sie jetzt saßen.
Der komplett durchgestylte Raum sollte wahrscheinlich die Gegenpartei einschüchtern, überlegte Tenstaage. Er war ein ganzes Stück höher als die normalen Büros, wodurch man sich selbst in gewisser Weise klein und unbedeutend vorkam, beinahe wie geschrumpft. Der dunkle, geölte Parkettboden schimmerte in der ausgeklügelten indirekten Beleuchtung, die an den Wänden installiert war. Der klobige Tisch und die passenden, handgefertigten Stühle mussten ein halbes Vermögen gekostet haben. Die andere Hälfte hatten der Graf und seine Partner wahrscheinlich für die beiden riesigen modernen Gemälde hingelegt, die zwei Seiten des Raumes zierten.
Doch Tenstaage beeindruckte das wenig. Als Architekt hatte er ständig mit Neubauten zu tun. Entweder war dabei das Geld knapp und der Bauherr versuchte, an allen Ecken und Enden zu sparen, oder es ging nur darum, zu protzen. Je teurer das Bauwerk wirkte, umso besser. Er unterdrückte ein Gähnen und warf wieder einen verstohlenen Blick auf die Uhren-Installation. Er hoffte, dass der Graf bald zum Ende kommen würde. Er wollte endlich hier raus. Schließlich hatte er noch die Rückfahrt zu seinem Haus in Lübeck vor sich.
Oder er könnte auch einfach in Hamburg bleiben, im Hyatt oder im Steigenberger einchecken und die Nacht in der Stadt verbringen, überlegte er. Ein oder zwei entspannte Cocktails an der Hotelbar waren sicherlich nicht die schlechteste Möglichkeit, den Vertragsabschluss zu feiern. Vorausgesetzt, der Graf schaffte es endlich, seine letzte Korinthe zu kacken. Er grinste über sein gedankliches Wortspiel.
»Ich denke, von unserer Seite wäre dann alles geklärt«, sagte Stanbach in diesem Augenblick und sah Tenstaage erwartungsvoll an.
Dieser hob beide Hände und lächelte. »Keine weiteren Einwände«, erklärte er und atmete insgeheim erleichtert auf.
Auch die beiden Schlipsträger aus dem mittleren Management des Baukonzerns, die während der Verhandlungen kaum ein Wort gesagt hatten, schienen froh zu sein, endlich nach Hause zu kommen.
Oder ins nächste Bordell, dachte Tenstaage amüsiert.
Wie auf ein geheimes Kommando zückten die beiden zeitgleich ihre Kugelschreiber, um den Vertrag endlich zu unterzeichnen.
Dementsprechend knapp fiel die Verabschiedung zwischen den Männern aus, nachdem die notwendigen Unterschriften geleistet waren. Tenstaage schüttelte jedem kurz die Hand, dann wandte er sich zur Tür, während die anderen noch am Tisch sitzen blieben. Wahrscheinlich wollten sie noch etwas unter sich klären. Ihm war das egal, er freute sich, endlich aus diesem verdammten Büro zu kommen. Ohne sich noch einmal nach seinen Vertragspartnern umzudrehen, verließ er den Raum. Die schwere, schallgedämmte Tür fiel beinahe lautlos hinter ihm ins Schloss.
Es war ruhig geworden in der Etage. Die meisten Mitarbeiter des Grafen schienen schon gegangen zu sein. Auch der Empfangstresen am Eingang der Kanzleiräume war nicht mehr besetzt.
Tenstaage spürte ein leichtes Bedauern. Er hätte sich noch gern
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