Mahlers Zeit
Widerstand. Er sah, wie eine Ente durchs Wasser trieb, die Flügel gefaltet, den Kopf weggestreckt, so daß eine zweite Ente mit dem Kopf nach unten ihr zu folgen schien. Eine Taube kreuzte tief darunter ihre Bahn: eine zweite, ihr Abbild, segelte durch die Luft, stieg höher, auf den Gletscher zu.
Sein Körper neigte sich vornüber. Seine Handflächen schlugen auf den Boden; er sah es, aber er spürte es nicht. Auf den lichtgefleckten Boden,noch feucht von der letzten hohen Welle. Und seine Entdeckung? Der Rest, die Gleichung, die er nicht ausgesprochen hatte, ohne die nichts verständlich war, die niemand sonst kannte? Er öffnete den Mund, aber er hatte keine Stimme mehr. Und keine Zeit: Die Sekunden rannen vorbei, die letzten, vielleicht auch nur eine, eine einzige Sekunde. Der Boden näherte sich. Eine Ameise schwamm in einer winzigen Pfütze.
Er hörte keine Geräusche mehr. Er hatte noch nie (doch: einmal) so eine Stille erlebt. Das Blau: Es konnte einen umschließen, und dann würde es ruhig sein, und dann hörte es auf. Plötzlich verstand er.
Die Sonne stand rund im Wasser. Umkreist von Möwen. Unter den in die Tiefe gerichteten Bergen. Dorthin ...?
Er hätte gerne jemandem gesagt, daß er begriffen hatte. Aber es war zu spät. Und auch nicht mehr nötig. Die Ameise hatte den Rand der Pfütze erreicht, kletterte auf einen Kieselstein, lief davon. Ließ eine dünne Wasserspur hinter sich.
Und er schlug auf den Boden, mit Kopf und Oberkörper, und die Kraft des Aufpralls rollte ihn auf den Rücken, und der Himmel kippte in sein Blickfeld, eine riesige Sonne, aber nun blendete sie nicht mehr. Auch eine gelbe Fahne. Und zwei Gesichter, eines mit Strohhut, eines mit Brille, spitzem Bart und farblosen Augen. Das eine hatte er einmalgekannt. Oder kennen wollen. Aber er wußte nicht mehr, welches.
Die Sonne erfüllte jetzt den halben Himmel. Auch der Gletscher schien näher. Eine Möwe zog einen fast vollkommenen Kreis. Ihm kam noch der Verdacht, daß es schon eine andere Sonne, ein anderer Gletscher und ein anderer Vogel waren: umgefaltet, jenseits der spiegelnden Fläche. Da löste er sich schon vom Boden und fiel, und das Blau des Raumes nahm ihn auf, und während er in das Gewölbe stürzte, schlossen sich seine Augen, und er sah nichts mehr, und dann hatte auch sein letzter, schon verformter, schon von anderswo stammender Gedanke sich aufgelöst, als wäre er nie dagewesen. Als wäre er nie dagewesen.
XVI
Die Sonne zerlief im See und färbte die Felswand rot. Über dem Wasser tanzte ein Mückenschwarm. Marcel warf seine Zigarette weg. Der Lichtbogen, den sie in die Luft malte, schien noch einen Moment stehenzubleiben, als sie schon im Wasser erloschen war.
Er atmete tief ein. Es war kühler geworden. Die Wellen schlugen gleichmäßig gegen den Stein. Die Bank, auf der er saß, war hart, und sein Rücken schmerzte. Er hatte sich vorhin nur ausruhen wollen; aber dann mußte er eingeschlafen sein. Ein merkwürdiger Traum: Ein kleines Mädchen hatte ihn mit starrem Ausdruck angesehen, ganz direkt, ohne etwas zu sagen, und plötzlich hatte es sich umgedreht und war davongegangen, sehr langsam, in kleinen Schritten, und da erst hatte er ihre Insektenflügel bemerkt ... Solche Träume hatte er sonst nie. Aber es waren auch seltsame Umstände.
David war in einem schwarzen Auto weggebracht worden. Zuerst war ein Rettungswagen dagewesen, doch der hatte ihn nicht mitgenommen, er durfte nur Lebende transportieren. Ein Kind hatte laut und fröhlich gelacht, als es den Mann aus dem Fernsehen erkannt hatte; seine Mutter hatte es erschrocken weggezerrt. Ein verwirrter Polizisthatte unbedingt irgend etwas wissen wollen. Und dieser Junge mit seinem Fahrrad, der allen im Weg gewesen war. Plötzlich war auch der Wissenschaftsminister aufgetaucht, noch immer rot im Gesicht, hatte sich umgesehen, etwas zu dem Polizisten gesagt, war wieder verschwunden. Ein paar Minuten später war dann das schwarze Auto erschienen, und zwei höfliche Männer hatten die Leiche mitgenommen. Aber am unangenehmsten war eine Fliege gewesen, die sich immer wieder auf Davids Gesicht gesetzt hatte, immer wieder, mit einem tiefen und satten Summgeräusch; sie war einfach nicht zu verscheuchen gewesen.
Marcel stand auf. Seine Gelenke fühlten sich steif an; er machte ein paar Schritte, aber es wurde nicht besser. Wann hatte er je auf einer Bank geschlafen?
Er mußte bald fahren. Er hatte überlegt, hier zu übernachten, aber dann entschieden,
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