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Mahlers Zeit

Mahlers Zeit

Titel: Mahlers Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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I
    In dieser Nacht machte David Mahler die wichtigste Entdeckung seines Lebens.
    Ein Mann bewegte sich auf ihn zu. Er trug einen grauen Mantel, einen Hut und einen Aktenkoffer, und irgend etwas an ihm wirkte zugleich vertraut und bedrohlich. Er kam sehr schnell näher. Sein Mantel wehte hinter ihm, sein Hut saß etwas schief, der Koffer schlenkerte in seiner Hand. Dann war es kein Mann mehr, sondern eine Frau mit einer großen, viel zu großen Handtasche, dann ein kleines Mädchen mit dürren Armen und zwei Insektenflügeln, die über seinen Schultern zitterten ... David wollte loslaufen. Aber er fühlte sich erstarrt, als gehorchten ihm seine Beine nicht, als hätte er keine Beine oder überhaupt keinen Körper mehr; er wollte Luft holen und schreien, aber er hatte keine Stimme, und da war auch keine Luft; und die Gestalt war schon sehr nahe. Auf einmal zerrann sie, ihre Umrisse veränderten sich, wurden eins mit dem grünlichen Horizont, verschwanden. Und dann war selbst dieser Horizont nicht mehr da, und nur Davids Angst blieb, wie etwas Abstraktes, abgelöst von jeder Ursache, zurück. Für eine Weile, die er weder als lang noch als kurz empfand, sondern als eine seltsam zerdehnte Gegenwart, war ihm nichts anderes bewußt. Er war völlig allein mit seiner Furcht.
    Trotzdem versuchte er, den Traum festzuhalten. Vergeblich: Für einen Moment konnte er sich noch erinnern, aber er wußte nicht mehr, an was er sich erinnerte, und dann, durch eine Bewegung seines Körpers, schwankte alles und kräuselte sich und löste sich auf. Es war vorbei. Er öffnete die Augen.
    Das Licht zeichnete weißliche, geschwungene Linien auf die Zimmerdecke, eine neben der anderen. Nachdem er einige Zeit hingesehen hatte, schienen sie sich zu bewegen und in Wellen überzugehen. Als ein Auto vorbeifuhr, flammten sie für eine Sekunde gelb auf. Dann hörte er ein Geräusch neben sich. Aber er drehte den Kopf nicht, und er wandte die Augen nicht von der Decke ab, über die jetzt schon ein lautloser Strom von Helligkeit floß. Er fühlte, wie etwas klar wurde.
    Eine schimmernde Struktur von Zahlen. Sie wuchs, bildete neue Kristallflächen, ein System gläserner Schönheit, und er sah zu und verstand. Er wußte, daß er sich nicht bewegen durfte. Alles andere mochte sich bewegen – die Welt draußen und auch das Zimmer; sogar sein Bett schien langsam durch den Raum zu treiben. Nur er durfte sich nicht rühren.
    Sein Herz klopfte schneller. Das Bett vollführte eine plötzliche Drehung, ein hoher, eigenartig klarer Ton füllte für Sekunden die Luft. David hörte auf zu atmen. Das Licht floß schneller über die Decke. Ihm war schwindlig. Und dann konnte ernicht mehr anders: Er setzte sich auf, schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett.
    Er ging auf das Fenster zu. Es wich vor ihm zurück; er ging schneller und erreichte es. Direkt darunter, auf der Straße, stand eine Laterne. Aber irgend etwas damit stimmte nicht; von ihr ging kein Licht aus; etwas fehlte: Die Kugel aus Milchglas, die an ihrer Spitze gewesen war, lag zerbrochen auf dem Asphalt. Ein Mann ging vorbei, die Scherben knirschten unter seinen Schuhen. David lehnte sich an die Scheibe, sie fühlte sich kühl an. Er drehte sich um, im Bett lag jemand, gleichmäßig atmend, mit geschlossenen Augen, der ihm bekannt vorkam. Er kam ihm sogar sehr bekannt vor. Er war es selbst.
    David zuckte zurück. Und öffnete die Augen.
    Er lag im Bett. Das Zimmer war dunkel und leer. Er streifte vorsichtig die Decke ab, stand auf und ging zum Fenster.
    Das Glas beschlug von seinem Atem. Er wischte über die Scheibe und sah hinunter auf eine zerbrochene Straßenlaterne. Ein Auto fuhr brummend vorbei. Er drehte sich um. Das Zimmer lag harmlos vor ihm. Aber die Laterne war zerbrochen. Gestern abend war sie noch ganz gewesen.
    Er ging zurück zum Bett – der Teppich fühlte sich weich an unter seinen nackten Füßen – und legte sich wieder hin. Er lag still und schloß die Augen. Neben ihm, auf dem Nachttisch, tickte seine Armbanduhr.
    Und da sah er es wieder. Es nahm Gestalt an. Ein Gebilde reiner Mathematik, zum ersten Mal in seinem Leben, nach so langer Arbeit, er mußte nichts dafür tun, es ging wie von selbst. Zahlen, die noch nicht ganz Zahlen waren, Begriffe, die ihre Bedeutung erst erhalten würden, Formen, noch nicht eingetreten in die Welt. Und das Ticken der Uhr erzeugte den Rhythmus, spannte ein Gerüst auf, an dem Formeln entlangglitten, sich aufreihten, sich ordneten. David

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