Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Maigret und die Unbekannte

Maigret und die Unbekannte

Titel: Maigret und die Unbekannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
ein angrenzendes Büro, wo sie sich wie in einem Wartezimmer steif jeder auf einen Stuhl setzten.
    Sie konnten beide das Bild der Unbekannten nicht loswerden.
    »Wer sie wohl sein mag?« murmelte Janvier nach langem Schweigen. »Ein Abendkleid zieht man doch nur an, wenn man ins Theater, in bestimmte Nachtlokale oder zu einer Gesellschaft geht.«
    Sie schienen beide den gleichen Gedanken zu haben. Irgend etwas stimmte hier nicht. Gesellschaften, für die man sich in Abendkleidung wirft, gibt es nicht so sehr viele, und wohl kaum jemals sieht man dort ein so billiges und so abgetragenes Kleid wie das dieser Toten.
    Andererseits konnte man sich nach dem, was Dr. Paul eben versichert hatte, schwer vorstellen, daß die junge Frau in einer der Bars auf Montmartre gearbeitet hatte.
    »Ob sie auf einer Hochzeit war?« fragte Maigret, ohne selber recht daran zu glauben.
    »Hm, das ist ja auch eine Gelegenheit, zu der man sich fein anzieht.«
    »Glauben Sie, sie ist…?«
    »Nein.«
    Und Maigret, während er sich seine Pfeife anzündete, seufzte:
    »Na, warten wir’s ab.«
    Sie hatten beide zehn Minuten geschwiegen, als er zu Janvier sagte:
    »Würde es dir etwas ausmachen, ihre Kleidungsstücke zu holen?«
    »Wollen Sie das wirklich?«
    Der Kommissar nickte.
    »Es sei denn, dir fehlt der Mut dazu.«
    Janvier öffnete die Tür, verließ den Raum für kaum zwei Minuten, und als er zurückkam, war er so blaß, daß Maigret schon fürchtete, er werde sich übergeben. Er hielt das blaue Kleid und die Unterwäsche in der Hand.
    »Ist Paul bald fertig?«
    »Ich weiß es nicht. Ich habe lieber nicht hingesehen.«
    »Gib mir das Kleid.«
    Es war schon oft gewaschen worden, und wenn man den Saum etwas auftrennte, sah man, daß die Farbe verblichen war. Auf einem kleinen Schild stand:
    Salon Irene, Rue de Douai 35.
    »Das ist dicht an der Place Vintimille«, sagte Maigret.
    Er untersuchte die Strümpfe – einer der Füße war feucht –, den Schlüpfer, den Büstenhalter und einen schmalen Strumpfhaltergürtel.
    »Ist das alles, was sie auf dem Leibe hatte?«
    »Ja. Und der Schuh stammt aus der Rue Notre-Dame-de-Lorette.«
    Alles war aus dem gleichen Viertel. Ohne Dr. Pauls Behauptung würde das genau darauf hindeuten, daß es sich um ein Animiermädchen oder eine junge Frau handelte, die auf dem Montmartre ein Abenteuer gesucht hatte.
    »Vielleicht wird Lognon etwas entdecken«, sagte Janvier.
    »Das möchte ich bezweifeln.«
    Beiden war nicht wohl zumute. Sie mußten unaufhörlich daran denken, was hinter der Tür vor sich ging. Dreiviertel Stunden verstrichen, bis sie sich endlich öffnete. Sie blickten in den Nachbarraum und sahen, daß die Leiche nicht mehr da war. Ein Angestellter des Gerichtsmedizinischen Instituts schloß gerade einen der Metallkästen, in denen die Leichen aufbewahrt werden.
    Dr. Paul zog seinen Kittel aus und zündete sich eine Zigarette an.
    »Ich habe nicht viel entdeckt«, sagte er. »Die Todesursache ist ein Schädelbruch. Das Mädchen hat nicht nur einen, sondern mehrere, mindestens drei Schläge auf den Kopf bekommen. Ich kann nicht feststellen, womit, es kann ebenso ein Werkzeug sein wie ein Leuchter, jedenfalls irgend etwas Schweres und Hartes. Sie ist zuerst in die Knie gegangen und hat versucht, sich an jemanden anzuklammern, denn ich habe unter den Nägeln kleine dunkle Wollfasern gefunden. Ich werde sie gleich ins Laboratorium schicken. Daß es dunkle Wolle ist, scheint mir zu beweisen, daß die Fasern vom Anzug oder Mantel eines Mannes stammen, an den sie sich angeklammert hat.«
    »Es ist also zu einem Kampf gekommen.«
    Dr. Paul öffnete einen Schrank und holte eine Cognacflasche heraus.
    »Trinken Sie ein Glas?«
    Maigret war ohne Zögern dazu bereit, und Janvier nickte auch.
    »Was ich noch sagen möchte, ist nur meine persönliche Meinung. Bevor man sie mit irgendeinem Gegenstand geschlagen hat, hat man ihr Schläge ins Gesicht mit der Faust oder vielleicht mit der flachen Hand versetzt. Ich möchte sogar sagen, man hat ihr ein paar kräftige Ohrfeigen verabreicht. Ich weiß nicht, ob sie in dem Augenblick in die Knie gegangen ist, aber es scheint mir ziemlich sicher, und der Betreffende hätte sich dann erst entschlossen, sie umzubringen.«
    »Mit anderen Worten, sie ist nicht von hinten überfallen worden.«
    »Bestimmt nicht.«
    »Dann war es also kein Straßenräuber.«
    »Nach meiner Meinung, nein. Nichts beweist, daß sie draußen überfallen worden ist.«
    »Haben Sie an dem

Weitere Kostenlose Bücher