Maigret und die Unbekannte
Silbertasche nicht um das Handgelenk gewickelt, hätte Bianchi ihr die Tasche nur entrissen, und das Auto wäre im schnellsten Tempo davongebraust.
Aber wenn sie dann das Erlebnis der Polizei berichtet hätte, würde niemand es ihr geglaubt haben.
»Warum haben sie die Leiche zur Place Vintimille gebracht?«
»Erstens konnten sie sie nicht in der Nähe meiner Bar liegenlassen, und dann gehörte sie der Art ihrer Kleidung nach mehr nach Montmartre. Sie haben sie dort an die erste einsame Stelle gelegt, die sie fanden.«
»Haben sie schon jemand zum Konsulat der Vereinigten Staaten geschickt?«
»Ganz bestimmt nicht. Sie warten noch.«
»Inspektor Clare ist am Apparat, Chef.«
»Laß das Gespräch auf meinen Apparat legen.«
Es handelte sich nur noch um eine Nachprüfung, und mehr aus persönlicher Neugier stellte Maigret Clare einige Fragen. Wie bei jedem Gespräch unterhielten sie sich halb englisch, halb französisch. Maigret sprach zwar schlecht englisch, und der Amerikaner schlecht französisch, aber jeder bemühte sich trotzdem eifrig, die Sprache des anderen zu sprechen.
Bevor Clare begreifen konnte, worum es ging, mußte Maigret alle falschen Namen von Julius van Cram aufzählen.
Unter dem Namen Donley war er vor einem Monat auf dem Gefängnisfriedhof von Sing-Sing beerdigt worden, wo er für einen Betrug eine achtjährige Strafe verbüßen mußte.
»Hat man das Geld wiedergefunden?«
»Nur einen kleinen Teil.«
»Wieviel?«
»An die hunderttausend Dollar.«
»Hieß sein Komplice Jimmy?«
»Jimmy O’Malley. Er hat nur drei Jahre bekommen und ist vor zwei Monaten entlassen worden.«
»Er hat einen Trip nach Frankreich gemacht.«
»Ich dachte, seine Tochter heiratete demnächst.«
»Er ist zu der Hochzeit zurückgefahren. Das Geld befindet sich in Brooklyn bei einem polnischen Schneider namens Lukasek.«
In Maigrets Stimme war dennoch ein triumphierendes Zittern zu vernehmen.
»Lukasek, der vielleicht nicht weiß, was er da in seiner Wohnung hat, soll das Paket einem jungen Mädchen namens Luise Laboine übergeben.«
»Wird sie kommen?«
»Leider nein.«
Das Wort war ihm nur so entschlüpft, und er setzte eilig hinzu:
»Sie ist in dieser Woche in Paris gestorben.«
Er wechselte noch ein paar höfliche Worte und sogar einige scherzhafte Bemerkungen mit Clare, den er seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte. Als er den Hörer wieder auflegte, schien er überrascht, daß Albert immer noch auf seinem Stuhl saß und dabei war, eine Zigarette zu rauchen.
Die Leute von der amerikanischen Kriminalpolizei würden, dessen konnte man fast gewiß sein, die Dollars auffinden und sie irgendeinem Bankier, dem sie gehörten, oder vielleicht auch einer Versicherungsgesellschaft zurückgeben. Denn wahrscheinlich war der Bankier gegen Diebstahl versichert. Der kleine polnische Schneider würde ins Gefängnis kommen, und wahrscheinlich würde Jimmy O’Malley, weil er den Auftrag übernommen hatte, statt an der Hochzeit seiner Tochter in Baltimore teilzunehmen, wieder nach Sing-Sing wandern.
Luises Schicksal hatte an einer Kleinigkeit gehangen, an einem Kettchen, das um ein Handgelenk gewickelt war. Wenn Mademoiselle Irene in der Rue de Douai dem jungen Mädchen, das eines Abends zu ihr gekommen war, um sich ein Kleid zu leihen, eine andere Handtasche gegeben hätte?
Und wenn sie rechtzeitig in die Rue de Ponthieu gegangen wäre, um dort selber den Brief in Empfang zu nehmen?
Würde Luise Laboine nach Amerika gefahren sein? Und was hätte sie dann mit den hunderttausend Dollar gemacht?
Maigret trank sein schon ganz warm gewordenes Bier aus. Er leerte seine Pfeife, aber nicht in den Aschenbecher, sondern in den Kohleneimer, wobei er sie gegen den Absatz schlug.
»Komm doch mal eben, Janvier.«
Er deutete auf den Barbesitzer, der sofort begriff, was das heißen sollte. Er begann sich bereits daran zu gewöhnen.
»Führ ihn in dein Büro, nimm seine Aussagen zu Protokoll, laß sie ihn unterschreiben, und bring ihn dann ins Untersuchungsgefängnis. Ich rufe inzwischen Untersuchungsrichter Comeliau an.«
Dies alles war nur noch Routine und interessierte ihn nicht mehr. Im Augenblick, da Albert durch die Tür ging, rief er ihn noch einmal zurück.
»Ich habe ja ganz vergessen, die drei Pernods zu bezahlen.«
»Die gehen auf Geschäftsunkosten.«
»Kommt nicht in Frage.«
Er reichte ihm mehrere Scheine und murmelte, wie er es in der Bar in der Rue de l’Étoile gemacht hätte:
»Den Rest kannst du
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